Seit bald zwei Wochen protestieren in Deutschland die «Anständigen» und «Rechtschaffenen» gegen rechts. Solche Moralbegriffe beruhen auf Verachtung für die anderen. Und sind verlogen.
In Traunstein in Oberbayern findet am kommenden Sonntag eine Demonstration unter dem Motto «Wir sind die Brandmauer – Keinen Zentimeter dem Faschismus» statt. Es sei Zeit für einen «Aufstand der Anständigen», schreibt das Bündnis «Bunt statt Braun» auf Instagram. Und weiter: «Es ist die Pflicht aller rechtschaffenen Menschen, dafür zu sorgen, dass die Geschichte sich nicht wiederholt.»
Die Stadt mit 22 000 Einwohnern folgt dem Beispiel anderer Städte in Deutschland, wo die selbsternannten Anständigen seit fast zwei Wochen auf die Strassen gehen. Mit dieser Selbstbezeichnung protestieren Zehntausende gegen den CDU-Kanzlerkandidaten Friedrich Merz und seinen «gewaltigen Tabubruch», mit den «Stimmen der Rechtsextremen» seine «Abschottungspolitik» durchzusetzen, wie es im Aufruf für Traunstein heisst.
Selbst wer den Protest gegen den angeblichen Rechtsruck ernst nehmen will und die Sorge über das Erstarken der AfD anerkennt, muss von Begriffen wie «anständig» und «rechtschaffen» abgeschreckt werden. All jene, die sich damit auszeichnen, scheinen nicht zu merken, wie anmassend sie klingen, wie überheblich und unverschämt.
Denn die Anständigen weisen die Scham jenen zu, die es in ihren Augen an Anstand vermissen lassen. Was Anstand ist, dafür bieten sie sich als moralisches Vorbild an.
Appell an «Christdemokraten mit Anstand»
Unüberhörbar bei der beliebten Verwendung des Begriffs ist der erpresserische Beiklang. Als sich bereits am Wochenende nach Merz’ Vorstoss zum Asylrecht 160 000 Menschen in Berlin zum «Aufstand der Anständigen» versammelten, rief die Aktivistin Luisa Neubauer der Menge zu: «Ich würde vorschlagen, dass wir die Wochen bis zur Bundestagswahl keine Sekunde aufhören, an die Christdemokraten mit Anstand zu appellieren.» Alle anderen, sagte sie damit, seien sittlich verkommen.
Dabei ist es nicht falsch, anständig sein zu wollen, das heisst, nach Werten zu handeln, die im Alltag ein gutes Zusammenleben ermöglichen. Die Eltern lehren das Kind, «Danke» zu sagen. Im vollen Tram bietet man einem älteren Menschen den Sitz an. Auf X hetzt man nicht gegen andere, auch wenn man ihre Meinung nicht teilt.
Wird das Wort aber als moralische Kategorie verwendet, wie es jetzt bei den «Demos gegen rechts» geschieht, verändert sich seine Aussage. Man bezeichnet sich als anständig in Abgrenzung von Merz, der CDU und überhaupt allen, die nicht auf die Strasse demonstrieren gehen. Mit der Selbstbezeichnung schliesst man alle anderen aus. Der Rest, das sind die Unanständigen, weil sie andere Ansichten haben.
Die Doppelmoral der Gutmeinenden
So ist es in den vergangenen Jahren gelaufen: Der woke Zeitgeist hat definiert, was moralisch gut, was anständig ist. Das hat in linken Milieus eine Selbstgerechtigkeit befördert, die im «Aufstand der Anständigen» noch einmal so unverhohlen zutage tritt, dass man staunt. Das Gutsein geht immer noch besser.
Der Appell an die Anständigen ist dabei nicht neu. Im Oktober 2000 rief der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder zum «Aufstand der Anständigen» auf mit den Worten: «Wegschauen ist nicht mehr erlaubt.» Er reagierte damit auf den Brandanschlag auf eine Synagoge in Düsseldorf, den man anfänglich für die Tat Rechtsextremer hielt. Es kam zu Demonstrationen und Lichterketten gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.
Als Täter wurden zwei Monate später ein aus Marokko stammender deutscher Staatsbürger und ein Palästinenser überführt. Ihr Motiv: Sie wollten sich für den Tod eines Jungen in Gaza rächen, den die israelische Armee erschossen hatte. Die Proteste, so gut gemeint sie waren, hatten sich gegen die Falschen gewendet.
Auch bei den jetzigen Demos verhält es sich nicht so einfach. Die Anständigen geben vor, die Moral gepachtet zu haben, scheinen aber kein Problem mit ihrer Doppelmoral zu haben. Nämlich dann, wenn man propalästinensische Linksaktivisten, die zur Vernichtung Israels aufrufen, am Rande mitmarschieren lässt. Die Tugendhaften legen an ihr Handeln andere Massstäbe an.
Himmler und die «anständigen» Nazis
Das Herausstellen der eigenen Moralität kann nur scheitern. Die meisten Leute empfinden sich als anständig, jedoch im Wissen um die eigene Unvollkommenheit. Niemand, der halbwegs ehrlich mit sich ist, würde damit angeben, anständig zu sein. Anständig im Sinn von unfehlbar: ohne innere Abgründe, ohne dunkle Begierden, ohne Hässlichkeit. Wer sich so sieht, verdrängt die eigene Widersprüchlichkeit.
Deshalb ist die Selbstadelung zum Anständigen gefährlich. Sie schützt nicht davor, Unrecht zu begehen und anderen Leid anzutun. Die Nationalsozialisten beschönigten ihren Massenmord im «Dritten Reich» damit, dass sie trotz allem «anständig» blieben. Mit dem Wort lobte Heinrich Himmler die Belastbarkeit der SS-Offiziere angesichts der von ihnen begangenen Verbrechen.
Die Anständigen, die heute dafür kämpfen, «dass die Geschichte sich nicht wiederholt», sind geschichtsvergessen. Weil das Wort historisch so kontaminiert sei, hält es der Theologe Knut Berner für unbrauchbar. Er kritisierte bereits 2013, dass der Anstandsbegriff im «moralbegeisterten Deutschland» eine Renaissance erlebe.
Wir die Reinen, ihr die Rohen
Der Anstand muss deswegen nicht gleich abgeschafft werden. Der Begriff behält seine Berechtigung als persönlicher Wert, an dem sich der Einzelne orientiert. Man verhält sich im täglichen Leben anständig, ohne dafür gelobt werden zu wollen.
Sobald Anstand aber zum kollektiven Selbstlob von politisch Gleichgesinnten verkommt, ist er bloss ein Wort, das auf der Verachtung für die anderen beruht. Wir die Zivilisierten, ihr die Barbaren. Wir rein und gewissenhaft, ihr roh und vulgär.
Bei einem der Grossaufmärsche in der deutschen Hauptstadt skandierten die Demonstrierenden «Ganz Berlin hasst die CDU». Die Anständigen bekennen sich also doch noch zu einem hässlichen Gefühl. Man ist fast erleichtert.