Berlins Kultursenator wurde vom Kanzler als «Hofnarr» beschimpft. Dabei zeigt sein Weg vom Nürnberger Nachtklub in die Hauptstadtpolitik: Der CDU-Politiker versteht sich auf Deeskalation – weiss aber auch, wann es Zeit ist für klare Worte.
Joe Chialo weiss, wie man brenzlige Situationen befriedet. Gelernt hat er es als Türsteher eines Nürnberger Nachtklubs. Vor drei Jahrzehnten war das, lange vor seinem Amtsantritt als Berliner Kultursenator. «An der Tür lernt man Menschen und ihren Charakter kennen», sagt Chialo, «vor allem, wie sie auf Widerstand reagieren.» Sein Ziel sei immer die Deeskalation gewesen: «Ein einziger Schlag kann lebensverändernde Konsequenzen haben.»
Rohe, physische Gewalt muss er heute zumindest nicht mehr täglich fürchten. Stattdessen kämpft er mit dem Unmut der Berliner Kulturinstitutionen. Denn ihnen muss er seit seinem Amtsantritt beibringen, dass die Kassen des Staates leer, die fetten Jahre vorerst vorbei sind. Auch das braucht beschwichtigendes Geschick – und die Bereitschaft, ungewöhnliche Allianzen einzugehen. Seinen Pressesprecher, ein Mitglied der sozialistischen Linkspartei, hat der Christlichdemokrat Chialo vom Amtsvorgänger übernommen. «Ich sehe es als Gewinn», sagt er, «wenn jemand die Welt aus einer anderen Perspektive betrachtet als ich.»
Ein Mann des Ausgleichs scheint Chialo zu sein, ein Profi der politischen Diplomatie und der leisen Töne.
Doch es gibt da noch eine andere Seite an Chialo – eine laute, rebellische. Denn seine jungen Jahre verbrachte er nicht nur als Mitarbeiter der Einlasskontrolle vor der Klubtür, sondern auch als Sänger einer Rockband. Laute, durch einen Kompressor von jeder Dynamik befreite E-Gitarren hört man in den Songs des Quartetts wütend durch die Takte walzen, die wiederum mit dem zornigen Sprechgesang Chialos unterlegt sind.
Ein wenig erinnert das Œuvre der Nürnberger Rocker an Rage Against the Machine, jene kalifornische Band also, deren Kampfruf «Fuck you, I won’t do what you tell me» Anfang der 1990er Jahre zur Losung einer ganzen Generation wurde.
Kein öffentliches Geld für Judenhass
«Natürlich haben sie mich inspiriert», sagt Chialo über die kalifornischen Rocker mit Hang zum Klassenkampf. Diese Prägung scheint nicht nur musikalischer Natur, sondern auch politischer Art gewesen zu sein.
Als er etwa im vergangenen Jahr eine «Antisemitismusklausel» durchsetzen wollte, zeigte er sich ganz und gar undiplomatisch: Staatliche Subventionen sollten nicht länger für menschenverachtende Kunst verwendet werden. Die hauptstädtische Kunstszene reagierte entsetzt auf diesen Vorstoss. Man warf ihm Zensur, Gesinnungsschnüffelei, gar «McCarthy-Methoden» vor.
Bundesweit stand der CDU-Politiker plötzlich in den Schlagzeilen – und gab dem öffentlichen Druck, der auf die Empörungswelle folgte, wenig später nach. Aus «juristischen Bedenken», wie seine Verwaltung kleinlaut einräumte. Für grundsätzlich richtig hält er seine Idee bis heute. Nach den Anschlägen vom 7. Oktober in Israel sei für ihn klar gewesen: «Wenn Juden in Deutschland bedroht werden und Angst haben müssen, dann dürfen wir nicht zögern, sondern müssen handeln.» Die Vergabe von Fördermitteln daran zu knüpfen, dass sie nicht für antisemitische Agitation und Aktionen missbraucht würden, hält er deshalb für «denklogisch».
Was ihn überrascht habe, sei gewesen, dass die Diskussion auf Antisemitismus reduziert worden sei. Dabei sah die Klausel auch andere Diskriminierungsformen wie Islamfeindlichkeit, Rassismus oder Ableismus vor. «Im Verlauf der Debatte wurde mir erstmals richtig bewusst, dass es auch im Kulturbereich ein ernsthaftes Antisemitismus-Problem gibt, das zu oft unter den Teppich gekehrt wird», erinnert er sich heute.
Antisemitismus werde häufig als ein Phänomen bildungsferner, rechtsextremer Kreise abgetan. «Dabei findet es sich genauso auch in linken, gutsituierten Kreisen.» Trotzig besteht er deshalb darauf: «Gescheitert bin ich mit der Klausel nicht. Wir müssen und wir werden handwerklich nachbessern, insofern bleibt das Thema auf dem Tisch.»
Der politische Amateur lernt die Hauptstadt kennen
Man merkt Chialo an: Die heftigen Reaktionen haben ihn gezeichnet. Wenn er über das politische Tagesgeschäft spricht, wählt er seine Worte mittlerweile vorsichtiger, wägt ab, versucht Angriffspunkte zu minimieren. Grund dafür war nicht zuletzt die Debatte über die Antisemitismusklausel: Für ihn, den politischen Amateur, waren sie auch ein Crashkurs in Politik.
Chialo hatte zuvor jahrelang als Manager beim Plattenlabel Universal Herzschmerz-Lieder der Kelly Family oder den Seemanns-Pop der Band Santiano vermarktet. Und war mit seinem Wechsel ins Senatorenamt plötzlich im brutalen politischen Betrieb aufgewacht, in dem jedes Wort und jede Silbe eine heftige Debatte auslösen kann. Ein CDU-Parteibuch besitzt Chialo erst seit 2018, von einer gescheiterten Kandidatur für den Bundestag abgesehen, hatte er keinerlei Erfahrungen in der Politik vorzuweisen.
Genau das aber, seine Ferne vom politischen Betrieb, machte ihn gleichzeitig auch attraktiv für die Berliner CDU. In den hippen Kiezen der Hauptstadt, wo die Christlichdemokraten als piefige Truppe verpönt sind, sollte Chialo bei der Modernisierung mithelfen. Ein Quereinsteiger mit liberalem Geist und konservativer Bodenhaftung – für den Berliner CDU-Chef Kai Wegner war er die Idealbesetzung, ein Glücksfall gar. Seine Präsenz half, die Erinnerung an Finanzskandale und Filz der vergangenen Jahrzehnte vergessen zu machen.
In der Kulturszene bleibt er dennoch ein Exot. Nicht allein wegen seiner Politik, sondern wegen des Parteibuchs. Zwischen Klubtür und Vernissage gilt es weiterhin als Karrierekiller, sich als CDU-Mitglied zu outen. Es gebe zwar durchaus konservative Kulturschaffende, sie blieben aber lieber unsichtbar, sagt Chialo. Die Folge: eine selbstreferenzielle Blase, in der man sich gegenseitig bestätigt, statt die wirklich kontroversen Debatten zu führen. «Kultur muss aber genau das sein: ein Forum für echten Streit.»
Der Sparsenator
Der grösste Streit kam dann aber erst mit den Haushaltsverhandlungen. Nach Jahren des (vermeintlichen) Überflusses musste Chialo den Kulturinstitutionen der Stadt das Sparen beibringen. 12 Prozent weniger im laufenden Jahr – auch wenn der Berliner Kulturetat mit einer Milliarde Euro im internationalen Vergleich noch immer üppig ausfällt.
Er wolle die Kultur in der Hauptstadt kaputtsparen, hiess es. In den fetten Jahren hatte man sich an den scheinbar endlosen Zufluss von Steuermilliarden gewöhnt. Eine problematische Abhängigkeit, findet Chialo. «In der Kunst verhandeln wir unsere Existenz», sagt er nachdenklich, «die Erfahrungen, die wir mit oder über Musik, Malerei oder Theater machen, sind im Kern doch das, was uns Menschen ausmacht.»
Der Staat könne und solle zwar dabei helfen, dass Menschen mit diesen Erfahrungen in Berührung kämen. «Es besteht jedoch die Gefahr, dass aus finanziellen Zuwendungen eine künstlerische Abhängigkeit erwachse, dass Kunst vor allem im Hinblick darauf geschaffen werde, was politisch wünschenswert erscheine. Kunst solle aber ja nicht nur umarmen, sondern auch verstören. Künstler sollten deshalb hinterfragen, wie stark sie sich an öffentliche Geldgeber binden wollten.»
Zudem habe die üppige Förderung zu einer homogenen Kulturlandschaft geführt. Ein kleiner Kreis von Eingeweihten beherrsche die komplexen Fördermechanismen perfekt, während andere – besonders Künstler mit Migrationshintergrund – schon an den bürokratischen Hürden scheiterten. Die grossen Institutionen der Stadt erreichten trotz hohen Subventionen pro Besucher weder die Aussenbezirke noch neue Milieus. So verstärke die staatliche Kulturförderung ungewollt mehrere Formen der Exklusivität: «Sie bevorzugt nicht nur bestimmte Künstler, sondern subventioniert auch vorwiegend den Kulturkonsum einer ohnehin privilegierten Schicht.»
«Die Abhängigkeit der Kulturszene von staatlicher Förderung ist zu einer gefährlichen Selbstverständlichkeit geworden», mahnt er. Einige Institutionen hätten in den vergangenen Jahren verlernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Natürlich brauche es eine staatlich finanzierte Grundstruktur für Opern, Museen und Theater sowie die Freie Szene. «Aber Kultur lebt von ihrer tatsächlichen Freiheit – und die kann auch finanzielle Unabhängigkeit bedeuten.»
In Skandinavien etwa gebe es eine ausgewogene Mischung aus Sponsoring, Wirtschaftskooperation und staatlicher Förderung. Die Beispiele der Berliner Philharmoniker und des Friedrichstadt-Palasts zeigten, dass wirtschaftliches Denken und künstlerische Freiheit auch in Deutschland miteinander vereinbar seien.
Rassistischer Affront beim Weisswein
Und nun auch noch das: Bei einem Empfang im Februar, das Weissweinglas in der Hand, warf Olaf Scholz der CDU vor, mit dem Faschismus zu liebäugeln. Als Chialo protestierte – immerhin sitze er selbst im Bundesvorstand –, folgte die Entgleisung: Er, der Schwarze, sei doch nur ein Feigenblatt. So berichtet der «Focus» über den Wortwechsel. «Jede Partei hat ihren Hofnarren.»
Scholz nannte den Vorwurf, er habe Chialo damit rassistisch beschimpft, später hingegen «absurd und konstruiert». Und brachte einen einschlägig bekannten Medienanwalt in Stellung. Chialo reagierte seinerseits mit der ihm eigenen Contenance: Die Worte seien «herabwürdigend und verletzend» gewesen.
Kulturelle Taktlosigkeit ist ihm dabei nicht fremd. Als er 2023 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Tansania begleitete, sollte ausgerechnet er, der einzige gebürtige Tansanier der deutschen Delegation, beim Treffen mit Präsidentin Hassan fehlen. Chialo intervenierte und durfte dann doch am Tisch Platz nehmen. Heute sieht er es gelassen: Man habe sich damals einfach zu starr am diplomatischen Protokoll orientiert, es sei keine böse Absicht gewesen, glaubt er.
Stattdessen erkennt Chialo die Bemühungen Steinmeiers um die Beziehung der beiden Länder an. Der Präsident sei mit «echtem empathischem Interesse» nach Dar es Salaam gereist. «Das ging weit über diplomatische Pflichtübungen hinaus.» Der Moment etwa, als Steinmeier um Vergebung für Kolonialverbrechen bat, sei ein heiliger Moment gewesen, auf den viele Afrikaner lange gewartet hätten.
Den politischen Umgang mit dem Kontinent sieht er dennoch kritisch. «Der deutsche Blick auf Afrika ist von gestern», sagt er. «Während wir oft nur Krisen sehen, entstehen dort eine moderne digitale Infrastruktur und eine innovative Startup-Industrie.»
Statt diese Dynamik aber zu nutzen, halte Berlin lieber an einer Entwicklungszusammenarbeit fest, die Investitionen an strikte, westliche Vorgaben knüpfe. «Furchtbar paternalistisch» sei das, schimpft Chialo. «Afrika braucht keine moralischen Belehrungen, sondern echte Partnerschaften auf Augenhöhe.» Andererseits würden afrikanische Staatsoberhäupter in Berliner Ministerien bestenfalls auf Abteilungsleiterebene empfangen. «In einer Zeit rasanter geopolitischer Veränderungen können wir uns diese Arroganz nicht mehr leisten.»
Da ist er wieder, der Türsteher von einst, der weiss, wann es Zeit ist für klare Worte: Wenn Chialo über Afrika und den deutschen Umgang mit dem Kontinent spricht, dann kehrt die Leidenschaft des Rockmusikers zurück. Dann wird seine Stimme kraftvoller, die Worte fallen schärfer, die diplomatische Zurückhaltung weicht dem Drang zur Veränderung. Ein Mann des Ausgleichs mag er sein – aber einer, der weiss, wann es Zeit ist, die leisen Töne durch laute zu ersetzen.