Übertourismus und Klimawandel verändern das Reiseverhalten: Die Nebensaison rückt in den Fokus. Mit ihr kommen neue Ziele, andere Buchungszeiten und Preise.
Früher reisten Erholungssuchende meist gleich. Sie wählten ihren Sehnsuchtsort zur sogenannt besten Reisezeit und buchten dann. Wer feste Ferien, aber kein Ziel hatte, liess sich davon leiten, wo auf der Welt gerade Hauptsaison war. Reisen in der Nebensaison galten als unattraktiv. Wer es trotzdem tat, galt als mittellos oder sonderbar. Doch bis zur Jahrtausendwende reisten deutlich weniger Menschen als danach, die jährlich wiederkehrende Masseninvasion an den touristischen Hotspots blieb noch aus.
Das hat sich geändert. Der Anstieg lässt sich klar quantifizieren: 1995 registrierte die von der Uno betriebene Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) etwa 530 Millionen internationale Touristenankünfte. Die Zahl stieg auf rund 1,3 Milliarden Ankünfte im Jahr 2023, mit einem Rekordhoch vor der Corona-Pandemie im Jahr 2019 mit 1,5 Milliarden Ankünften. Als Reaktion auf den damit einhergehenden Übertourismus sowie auf den Klimawandel und aufgrund von flexiblen Arbeitszeiten und Remote Work ändern viele ihre Reisegewohnheiten.
Hauptsache, Nebensaison
Wer es sich heutzutage einrichten kann, reist antizyklisch und somit in der Nebensaison. Die Reisenden haben mehr Ruhe, können sich entspannt und frei bewegen und profitieren meist von geringeren Flug-, Mietwagen- und Übernachtungskosten. Zwar mögen die Temperaturen zumeist tiefer und die Freizeitangebote begrenzter sein als zur vermeintlichen Primetime. Doch stellt sich die Frage, ob man das volle Aktivitätsprogramm tatsächlich braucht oder ob mildere Temperaturen nicht sogar angenehmer wären als die Hitze der zunehmend heisser werdenden Sommer im Mittelmeerraum, die auch durch etwas Regen zwischendurch kaum gemindert wird. So soll laut einer Studie von McKinsey die Zahl der «unerträglichen Tage» (über 37 Grad) in manchen Regionen von heute dreissig auf deren sechzig bis ins Jahr 2050 steigen. Das Klima in Marseille etwa könnte sich dem des heutigen Algier angleichen.
Ausserdem steht man in der Hauptsaison oft im Stau, in der Warteschlange und mit Tausenden anderen Besuchern vor den Sehenswürdigkeiten. Selbst an den Stränden oder in trendigen Aussenquartieren kann man sich eingeengt fühlen, und im schlimmsten Fall wird man von wütenden Einheimischen mit Wasserpistolen bespritzt – wie in Barcelona, wo Bewohner der Trendstadt auf diese Weise gegen die Touristenflut vorgehen.
Reist man ein paar Wochen früher oder später, zeigt sich oft ein anderes Bild: In der Ruhe vor und nach dem Touristenansturm entfaltet sich die Magie selbst an den klassischen Hotspots. Illustre Küstenorte wie Saint-Tropez, Antalya und Ibiza oder faszinierende Städte wie Lissabon, Florenz und Amsterdam lassen sich gelassen entdecken, wenn man zum richtigen Zeitpunkt reist. Auch die im Sommer von den Menschenmengen überrannten Einheimischen sind entspannt und freuen sich über Gäste, die zu stilleren Momenten anreisen und dazu beitragen, die teilweise enormen saisonalen Einkommensschwankungen auszugleichen. Ein weiterer Vorteil: Man muss nicht lange im Voraus planen und buchen. Kurzentschlossene finden spontan ein Zimmer im gewünschten Hotel und einen Tisch im angesagten Restaurant – und können sich nach Lust und Laune treiben lassen.
Um dem Übertourismus zu entgehen, werden nicht nur vermehrt ruhigere Reisemonate angepeilt, sondern auch weniger frequentierte Reiseziele. Comporta statt Algarve. Apulien statt Toskana. Tinos statt Mykonos. Doch offen gesagt, ist man am Nordpol oder in Asturien heutzutage kaum weniger Tourist als in Venedig, Barcelona oder Dubrovnik. Praktisch unbeachtete Ecken der Welt können neuerdings über Nacht zu Hotspots werden. Ein paar Kurzvideos auf Instagram oder Tiktok – und Horden von Besuchern erobern das urtümliche umbrische Hügeldorf oder die einsame kroatische Inselbucht.
Auf der touristischen Landkarte gibt es keine weissen Flecken mehr, doch speziell im Hochsommer findet man sein Reiseglück eher an den sogenannten Zweitzielen, den etwas weniger bekannten, oftmals ebenso reizvollen Orten abseits vom Dichtestress der berühmten Destinationen.
Jetzt buchen: im Herbst an die Wärme
Familien mit Kindern wenden zu Recht ein, dass sie an die Schulferienzeiten gebunden seien. Das schränkt tatsächlich ein, zwingt jedoch niemanden, im Juli und August wie über die letzten Jahrzehnte üblich die Ferienhochburgen am Mittelmeer aufzusuchen.
Diese lohnen sich nämlich genauso während der Frühlings- oder Herbstferien, sofern man bereit ist, das Freizeitprogramm anzupassen. So eignen sich die Frühlingsmonate besonders für Ausflüge, Velotouren und Stadterkundungen, und Mitte Oktober liegen die Wassertemperaturen auf den Balearen, an der türkischen Riviera oder auf den griechischen Inseln der südlichen Ägäis noch bei 21 bis 24 Grad. Überdies spielt sich das mediterrane Leben im Herbst bei angenehm mildem Klima weitgehend unter freiem Himmel ab, während es in unseren Breitengraden merklich kühler wird. Immer mehr Leute «verlängern die warme Jahreszeit, indem sie ihre Badeferien in den Herbst verlegen», sagt Muriel Wolf Landau, Kommunikationsleiterin der Hotelplan Group. «Besonders bei Ägypten verzeichneten wir im vergangenen Herbst ein grosses Plus, und für den Herbst 2025 weisen auch fernere Ziele wie Tansania, die Malediven und die Seychellen einen deutlichen Aufwärtstrend auf.»
Die Zahlen der Reiseveranstalter zeigen: Die Masse reist nach wie vor im Sommer in den Süden, doch Schweizerinnen und Schweizer meiden zunehmend zur Hochsaison Strand und Meer und ziehen für ihre Badeferien den Herbst vor. An manchen Orten hat sich die bisherige Nebensaison zur neuen Hauptsaison entwickelt, wie die Buchungen der letzten zwei Jahre auf Kreta, Mallorca und Zypern zeigen: Im Sommer herrscht Zurückhaltung, während im Herbst die Nachfrage steigt und Flüge sowie Hotels teurer werden. Andersherum nutzen Reisende die Sommerferien für Fernziele, die nicht in der teuren und überfüllten «peak season» liegen, wie das südliche Afrika, Costa Rica, Südasien oder Neuseeland. Alternativ wählen sie nahe gelegene Ferienziele, die statt sengender Hitze angenehme sommerliche Frische bieten.
«Coolcations» im Aufwind
Sommerreisen in die Berge und in den hohen Norden Europas verzeichnen einen kontinuierlichen Zuwachs. Die Erderwärmung begünstigt die Alpenregionen, was mehr Sommergäste und steigende Übernachtungspreise zwischen dem Saanenland und dem Engadin zur Folge hat.
Wer sich unlängst noch am Mittelmeer schwitzend fragte, ob es auch fünfzehn Grad kühler ginge, zieht beim nächsten Mal vielleicht auch eine Finnland-Reise oder eine Schiffsexpedition um Spitzbergen in Betracht. «Coolcation» heisst die Idee, im frischen Norden Ferien zu machen, wo es Naturspektakel, unberührte Landschaften und Outdoor-Aktivitäten à discrétion zu erleben gibt und grosser Wert auf Nachhaltigkeit in allen touristischen Aspekten gelegt wird.
Während im letzten Sommer durchaus noch Betten in den mediterranen Küstengebieten frei waren, gewinnen die skandinavischen Länder sowie Schottland und Irland gegenüber traditionellen Sonnenzielen an Beliebtheit – gerade auch bei Schweizer Individualreisenden, die in ihren Ferien nicht nur an der Sonne liegen, sondern etwas erleben wollen, was noch lange in Erinnerung bleibt.
«Besonders Mietwagen-Rundreisen in Skandinavien boomen», oft über die Ländergrenzen hinweg – etwa durch Norwegen, Schweden und Finnland, sagt Markus Flick, Mediensprecher des Nordland-Spezialisten Kontiki Reisen. Auch ein Blockhaus mit Sauna und Seeanstoss rege Naturfreunde zum Träumen und Buchen an. TUI Suisse bestätigt das zunehmende Interesse an Ferien im Norden und weist auf den Ausbau des eigenen Angebots für Lappland hin. «Die positive Entwicklung hängt auch mit den erhöhten Direktflugverbindungen ab der Schweiz zusammen», sagt die Kommunikationschefin Sonja Ptassek. Dennoch bleiben die Buchungszahlen für nordische Ziele niedriger als für klassische Badeferien, was an den begrenzten Kapazitäten liegt. Das freut die Zielgruppe – vorwiegend Slow Traveller, die abseits der ausgetretenen Touristenpfade reisen. Für sie gilt: «Der Norden ist der neue Süden», fernab der Massen.