Am neuen Schildträger liegt es nicht, dass «Captain America: Brave New World» enttäuscht. Es häufen sich lästige Rückblicke und tiefsinnige Dialoge unter Männern auf Intensivstationen.
Das Beste an diesem 35. Blockbustertrash aus der Marvel-Fabrik wurde schon im Voraus von der PR-Abteilung ausposaunt und herumgezeigt. Vielleicht, damit sich überhaupt noch irgendjemand aufrafft, ins Kino zu gehen? Diese Szene ist allerdings phantastisch: Im Showdown, kurz vor Schluss, kriegt der Präsident der Vereinigten Staaten einen Wutanfall. Er platzt aus dem Anzug, verwandelt sich in einen Hulk und zerlegt als solcher das Weisse Haus. Zeter und Mordio, Schutt und Asche.
Höchstwahrscheinlich finden zurzeit sehr viele Leute diese Bilder attraktiv, um nicht zu sagen, auf tröstliche Weise kommensurabel. An der Umsetzung wurde jedenfalls nicht gespart. Harrison Ford, 82, ist fabelhaft: überzeugend erbarmungswürdig, vom Scheitel bis zur Sohle, als irrer, alter, weisser Mann; und bleibt doch allezeit authentisch er selbst, sogar im Monsterformat.
«Ja, seit wann sind die Hulks denn rot?», fragt verwundert, während es ringsum aus allen Handfeuerwaffen knattert, eine Frau aus dem Volk. Es bleibt dies der einzige Kommentar, als Stimme einer ausgelutschten, müden Menschheit, die sich über nichts mehr wundert, weil sie eh schon alles mitgemacht und überlebt hat, diverse Invasionen aus dem All, ungezählte Kriege und Weltuntergänge sowie die eigne Auslöschung durch Thanos, den Titan.
Die Russen sind verschwunden
Diese wird als «Blip» bezeichnet. Die Handlung von «Captain America: Brave New World» spielt Jahre danach. Die Menschheit ist wieder auferstanden, fast alles beim Alten. Nur die Russen sind offenbar aus dem Marvel-Kosmos verschwunden. Wirtschaftlich konkurrieren die Amerikaner, was das Geschäft mit dem Rohstoff Adamantium anbelangt, nur noch mit Indien, Frankreich und Japan. Ausserdem feiern sie ihren neuen Captain America.
Sam Wilson (Anthony Mackie), vormals «The Falcon», tritt endlich seinen Dienst an. Er hatte das magische Schild anno 2019 aus den Händen des in den Ruhestand abtauchenden Captain Steve Rogers (Chris Evans) in Empfang genommen, als dessen designierter Nachfolger («Avengers: Endgame»).
Seine Falkenflügel durfte Sam behalten, die braucht er auch. Er wurde nicht mit Superhelden-Serum geimpft, ist also angewiesen auf Muskelarbeit plus ein paar Techniktools. Folglich unterzog sich Wilson erst ein paar Jahre einem harten Training (zu besichtigen in der äusserst langweilig geratenen Serie «The Falcon and the Winter Soldier»).
Jetzt ist es so weit: Er wird installiert als erster dunkelhäutiger Captain America. Was für ein netter, fitter Captain! Zwar nicht die hellste Kerze auf der Torte, was der Kernkompetenz des Jobs entspricht; dafür aber woke, nachdenklich, sympathisch, gutherzig.
Nächster Weltkrieg ist abgewendet
Er fliegt, gemeinsam mit seinem quietschfidelen Assistenten Joaquin Torres (Danny Ramirez) erst nach Mexiko, um Geiseln zu retten, und später zum Indischen Ozean, um durch das Ausschalten von zwei, drei japanischen Kampfjets den Ausbruch des nächsten Weltkriegs zu verhindern.
Die Aufträge dazu erteilt ihm Präsident Thaddeus «Thunderbolt» Ross, ja, genau: ebenjener vormals böse, inzwischen geläuterte General Ross, der einst das Militär auf den grünen Hulk gehetzt hatte. Fast wird er jetzt selbst Opfer eines Attentats. Wie sich herausstellt, steckt hinter dieser Ballerei wieder einmal ein auf Gehirnwäsche spezialisierter Labor-Mistkerl aus der Vergangenheit.
Captain America indes, unterstützt von Joaquin und zwei Ehemaligen, tappt weiterhin im Dunkeln. Das zieht sich. Kein Vergleich zu Tempo und Power der Avengers, mit ihren magischen Zauberkräften, die seit dem Blip verschwunden sind.
Nur noch Ersatzbösewichte
Nicht nur Superhelden arbeiten heutzutage mit Menschenkraft. Auch die Supergangster schwächeln. Seit nämlich Endgegner Thanos besiegt wurde und dessen designierter Nachfolger Kang (Jonathan Majors) aus den Drehbüchern gestrichen werden musste, weil Majors in eine #MeToo-Geschichte verwickelt ist, tauchen nurmehr Ersatzbösewichte im Nebendarstellerformat auf. Man kämpft sportlich. Wer schneller zieht oder höher Salto springt, gewinnt. Es häufen sich lästige Rückblicke und tiefsinnige Dialoge unter Männern auf Intensivstationen. Mit all dieser Kleinteiligkeit hat Regisseur Julius Onah seine liebe Not.
Aber es gibt Lichtblicke. Überraschend virtuos beispielsweise das Scharmützel, in welches Fiesling Giancarlo Esposito (als angeheuerter Söldner) den Captain verwickelt. Auch die Sicherheitsberaterin des Präsidenten, eine schwarze Witwe (Shira Haas), hat es faustdick hinter den Ohren. Und auf den Präsidenten alias Ford möchte man, ob er sich nun auf dem Hometrainer abstrampelt oder mitten im Gemenge einen gezielten Boxhieb platziert, auf keinen Fall verzichten.
Zu guter Letzt: der Filmtitel. Er ist dreifach dumm geklaut: erstens bei der Metal-Band Iron Maiden, die ihn sich, zweitens, auslieh bei Aldous Huxley, der, drittens, einen Shakespeare-Satz verwendet hatte aus «The Tempest». Selbstverständlich sind schlaue Zitate tragende Pfeiler der Comic-Ästhetik. Das funktioniert aber nur, wenn es etwas zu lachen gibt. Doch das Rüstzeug sanft verulkender Ironie kam schon den letzten Marvel-Filmen nach und nach abhanden. Was «Captain America: Brave New World» anbelangt, ist der Tiefpunkt dieser Entwicklung erreicht.