Ein neuartiges Medikament gegen Schmerzen macht die Menschen nicht abhängig wie Opioide. In den USA wurde es kürzlich zugelassen. Experten kritisieren allerdings die dünne Datenlage.
Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA hat Ende Januar das erste Schmerzmittel einer ganz neuen Substanzklasse zugelassen. Es ist bei akuten Schmerzen ähnlich wirksam wie die hochpotenten Opioide, verursacht aber weder deren Nebenwirkungen noch eine Abhängigkeit. Die Herstellerfirma Vertex Pharmaceuticals feiert das Mittel Suzetrigin als historischen Meilenstein in der Schmerztherapie. «Ich bin sehr begeistert – und skeptisch zugleich», sagt Konrad Maurer, Arzt und Schmerzspezialist am Institut für interventionelle Schmerzmedizin in Zürich.
Eine völlig schmerzfreie Familie – dank Gendefekt
Das neue Medikament blockt ein Protein, das in der Hülle von speziellen Nervenfasern sitzt. Diese sind für die Weiterleitung von Schmerz vom Körper ans Gehirn zuständig. Das Protein fungiert als Eintrittspforte für Natriumionen. Im Fachjargon wird es deshalb als Natriumkanal bezeichnet. Sobald die Ionen in die Nervenfaser einströmen, wird ein Schmerzsignal verstärkt, und es rast wie Feuer entlang einer Zündschnur ins Gehirn.
Bereits vor zwanzig Jahren wurde dieser Natriumkanal zum Lieblingsobjekt der Schmerzexperten. Forscher untersuchten eine Familie, bei der schon die Kinder ihr Geld damit verdienten, mit nackten Füssen über heisse Kohlen zu laufen – ohne mit der Wimper zu zucken. Es stellte sich heraus, dass diese Menschen wegen einer Veränderung im Gen für einen Natriumkanal überhaupt keine Schmerzen fühlten.
«Seit damals wird versucht, einen spezifischen Blocker für Natriumkanäle auf Schmerzfasern als Medikament zu entwickeln, jetzt endlich gibt es einen», erklärt Maurer seine Begeisterung.
Der Weg dahin war steinig. Denn es existieren insgesamt neun leicht unterschiedliche Natriumkanäle. Für die gewünschte spezifische Schmerzunterdrückung erschien es logisch, den Kanal vom Subtyp 7 ins Visier zu nehmen, da dieser bei der völlig schmerzfreien Familie nicht funktionierte. Doch alle Projekte scheiterten. Die amerikanische Firma Vertex hatte die bessere Idee: Ihr Mittel blockiert Kanal 8. Weitere Substanzen gegen Kanal 8 werden mittlerweile ausgetestet. Warum ein Mittel gegen Kanal 8 erfolgreich ist, nicht aber eines gegen Kanal 7, ist indes unklar.
Erste Studien testen Mittel nach Operationen
Ob der neue Kanalblocker nun tatsächlich die Schmerzbehandlung revolutioniert und sie opioidfrei machen wird, das ist ebenfalls noch nicht bewiesen. Denn bisher wurde das Mittel nur in zwei Studien mit insgesamt knapp tausend Patienten getestet.
Ungefähr die Hälfte bekam es nach einer Bauchstraffung, die andere Hälfte nach einer Zehengelenkskorrektur. In den Kontrollgruppen wurde ein gängiges Opioid beziehungsweise ein Placebo verabreicht. Nach der Bauchstraffung reduzierte der Kanalblocker die Schmerzen ähnlich gut wie das Opioid. Nach der Zehenoperation war der Kanalblocker etwas weniger effizient. Völlig ausgeschaltet wurde der postoperative Schmerz durch das neue Medikament nicht. Schwere Nebenwirkungen wurden keine festgestellt.
«Wie kann ein neues Medikament nach Tests an so wenigen Patienten zugelassen werden?», fragt Maurer erstaunt. «Das macht mich skeptisch.» Es sei noch vieles unklar, was Ärztinnen und Ärzte wissen müssten, zum Beispiel, wie lange der Kanalblocker gegeben werden könne oder welche Dosis bei welcher Schmerzintensität ideal sei.
Wirkt es auch gegen chronischen Schmerz?
«Wir wissen auch nicht, ob das Mittel gegen chronische Schmerzen wirkt», sagt die Neurologin Claudia Sommer von der Universität Würzburg. Zwar seien daran dieselben Nerven beteiligt wie bei akutem Schmerz. Doch es müsse bewiesen werden, dass ein Mittel auch dann den Schmerz reduziere, wenn es lange nach der Entstehung des ersten Schmerzreizes eingenommen werde. Oftmals haben sich durch permanente Schmerzreize bereits Strukturen im Gehirn wie auch an den Nerven im Rest des Körpers verändert.
Unbestritten ein grosser Vorteil des neuen Mittels: Es wird keine Abhängigkeiten geben wie bei Opioiden. Denn die Natriumkanäle auf Schmerzfasern kommne nur ausserhalb des Gehirns vor. Opioide hingegen docken an Rezeptoren im Gehirn an und führen so zu Abhängigkeit. Dieser Vorteil von Suzetrigin sei auch der Grund, warum die FDA das neue Mittel nun trotz der dünnen Datenlage zugelassen habe, vermuten beide befragten Schmerzexperten.
Denn in den USA gibt es nach wie vor ein riesengrosses Problem mit unsachgemässem Opioidgebrauch in Spitälern wie Praxen, sowohl bei akutem als auch bei chronischem Schmerz. So erhalten jährlich 40 Millionen Patienten Opioide. Rund 85 000 kommen nicht mehr davon los.
Viele der Hunderttausende von Opioid Abhängigen in den USA sind unsachgemäss behandelte Schmerzpatienten, die irgendwann kein Rezept mehr bekamen und dann auf illegale Opioide, meist Fentanyl, umgestiegen sind. Schon zwei Milligramm sind tödlich. Ein Schmerzmittel, das ähnlich gut wirkt wie Opioide, aber keine Abhängigkeiten verursacht, wird also in den USA händeringend benötigt.
Auch in der Schweiz und in Deutschland werden Opioide bei Operationen und in den Tagen danach gegen starke Schmerzen gegeben. Doch regelmässige Kontrollen und ein detailliertes Schmerzmanagement verhinderten Opioidsucht, sagt Maurer.
Vorerst werden nur Schmerzpatienten in den USA Suzetrigin erhalten. Denn die Herstellerfirma Vertex hat auf Anfrage mitgeteilt, dass man keine Zulassung in Europa beantragt habe, man müsse sich auf die USA konzentrieren.
Wirklich relevant für Deutschland werde das Mittel erst dann, wenn es auch Nervenschmerzen ohne Akutereignis, sogenannte neuropathische Schmerzen, reduzieren könne, so ist die Neurologin Sommer überzeugt. Das werde derzeit in klinischen Studien erforscht. Gegen neuropathische Schmerzen gebe es einen grossen Bedarf für neue Mittel. Denn mit den derzeit verfügbaren Medikamenten erreiche man im Idealfall eine 50-prozentige Schmerzreduktion. Und es gebe immer Nebenwirkungen, weil die Mittel auch im Gehirn andockten. Patienten berichten, dass auch das Absetzen von solchen Mitteln anstrengend sei, manche erlebten es ähnlich wie einen Entzug.
Ob das Mittel wirklich die Opioidproblematik in den USA minimieren wird, ist derzeit mehr als fraglich. Denn eine Tablette des neuen Kanalblockers kostet 15 Dollar, vorgesehen sind zwei pro Tag. Die neue Therapie ist somit um ein Vielfaches teurer als alle bisherigen Schmerzmedikamente.