Mit dem Film «A Letter to David» will die Berlinale beweisen, dass sie etwas gelernt hat nach dem propalästinensischen Aktivismus im letzten Jahr. Dann grätscht Tilda Swinton mit ihrem Israel-Hass hinein.
Am Dienstag sind es 500 Tage. 500 Tage, seit David Cunio von der Hamas verschleppt wurde.
500 Tage auch, seit sein Zwillingsbruder Eitan, vom Alarm der Sirenen geweckt, sich mit seiner Frau und den zwei kleinen Kindern in den Schutzraum ihres Hauses geflüchtet hat. Die junge Familie fürchtete einen Raketenangriff auf den Kibbuz Nir Oz, in dem sie unmittelbar an der Grenze zum Gazastreifen lebte. Dann hörte Eitan, wie Leute in die Wohnung eindrangen.
Im winzigen Schutzraum verriegelt er die Tür. Er stemmt sich dagegen. Doch die Terroristen versuchen gar nicht erst, zu ihnen zu gelangen. Eitan riecht Benzin. Die Angreifer setzen das Haus in Brand. Rauch und Hitze dringen in die Kammer. Der Vater versucht, nach draussen zu kommen, aber das Feuer hat die Türverriegelung zum Schmelzen gebracht.
Eitan Cunio und seine Familie sind gefangen. Er schickt den Nachbarn SMS, Hilferufe. Niemand kommt, es gibt keine Rettung. Der Rauch wird immer stärker, droht sie zu ersticken. Mehrere Male verliert Eitan das Bewusstsein.
Zwei Stunden sind sie in der Kammer eingesperrt, sie haben alle Hoffnung aufgegeben. Eitan und seine Frau sagen ihren Kindern, dass sie nichts mehr tun können. Sie verabschieden sich von den Kleinen. Dann verliert Eitan Cunio erneut das Bewusstsein.
Draussen geschieht das Massaker
Das Handy weckt ihn. Ein Nachbar schreibt, dass er sie rausholen werde. Sie sollten durchhalten. Mit letzter Kraft reisst Eitan Cunio noch einmal an der verbogenen Türverriegelung, plötzlich springt das Schloss auf. Der Rest des Hauses ist praktisch niedergebrannt. Draussen im Freien sieht Eitan das Massaker, das die Hamas angerichtet hat.
Von den knapp 400 Menschen im Kibbuz Nir Oz wurden am 7. Oktober 2023 mehr als ein Viertel ermordet oder nach Gaza verschleppt.
In seinem sehr persönlichen filmischen Essay «A Letter to David», den Tom Shoval am Wochenende an der Berlinale vorstellte, erinnert sich Eitan Cunio, zitternd an der Zigarette ziehend, wie er den Tag überlebt hat. Er kann sich nur zu genau vorstellen, was einige Häuser weiter bei seinem Zwillingsbruder David geschehen sein muss, mit dem er anfangs noch in Kontakt war.
David ist in einer ähnlich ausweglosen Lage. Die Familie teilt sich auf, der Vater flieht mit einem der dreijährigen Zwillinge über ein Fenster aus dem Schutzraum. Seine Frau, Sharon, bleibt mit dem anderen Kind zurück. Schon nach wenigen Metern wird David von den Terroristen überwältigt. Er sieht, wie Angreifer seine Frau und das zweite Kind aus dem Schutzraum zerren.
«Das ist meine Frau», schreit David Cunio und rettet ihr so vielleicht das Leben. Die Terroristen beschliessen, Sharon nicht umzubringen, sondern die ganze Familie als Geiseln zu nehmen. Aus reiner Barbarei werden die Eltern dabei von einem der Kinder, Yuli, getrennt. Erst nach zehn Tagen, in denen sie nichts über ihren Verbleib wussten, sei ihnen das Zwillingsmädchen zurückgegeben worden. So erzählt es der Filmemacher Tom Shoval im Gespräch mit der NZZ.
Seit er die Zwillingsbrüder vor dreizehn Jahren für seinen Spielfilm «Youth» entdeckt hat, ist Shoval mit ihnen befreundet. «David war Anfang zwanzig», so erinnert er sich an das Vorsprechen damals: «Obwohl er noch nie vor der Kamera gestanden hatte, vertraute er mir völlig, er strahlte eine ungeheure Lebensfreude aus, er dürstete nach Leben.» Als er sich zurückerinnert, verschlägt es Tom Shoval die Stimme.
Vermutlich in einem Tunnel
Sharon Cunio und die Kinder Yuli und Emma sind nach 52 Tagen Geiselhaft im Austausch gegen zahlreiche palästinensische Verbrecher freigelassen worden. Das Schicksal von David Cunio ist ungewiss. Genauso wie das von seinem jüngeren Bruder Ariel, der ebenfalls zu den Geiseln gehört.
«Wir wissen nicht viel», sagt Tom Shoval. Es gebe zumindest Hoffnung, dass sie am Leben seien, da kürzlich freigekommene Geiseln sie vor einiger Zeit gesehen hätten. Aber die Zeit laufe ab. «Es ist, wie wenn all der Sand bereits durch die Sanduhr gerieselt ist.»
Im Film gibt es eine Szene, in der Passanten an den ausgedruckten Bildern von den Entführten vorbeigehen. Unweigerlich gewöhnten sich die Leute an die Tatsache, dass es die Geiseln gebe, sagt Shoval. «Diesen Gedanken kann ich nicht ertragen.»
Als Tom Shoval ein paar Tage nach dem 7. Oktober David Cunios Mutter traf, sagte sie ausserdem einen Satz, den er nicht vergessen kann. Sie sagte, sie wolle, «dass alle wissen, was vor sich geht».
Die Berlinale wollte Cunio nicht helfen
Shoval versuchte nicht zuletzt in der Filmszene Aufmerksamkeit für David Cunio zu schaffen. Doch ausgerechnet die Berlinale, wo 2013 «Youth» im Programm lief, weigerte sich im vergangenen Jahr, öffentlich auf das Schicksal des Schauspielers aufmerksam zu machen.
Das Filmfestival, das sich in der Vergangenheit vielfach für inhaftierte Filmemacher etwa aus Iran oder Russland engagierte, wollte sich zu einer israelischen Geisel in den Händen der Hamas nicht äussern. Der antiisraelische Reflex der Festivalmacher zeigte sich unverhohlen. Erst erhielt Shoval gar keine Antwort. Nach wiederholten Nachfragen liess man ihm freundlich ausrichten, dass die Situation zu komplex sei.
Die Festivalausgabe von vergangenem Jahr wird nicht nur für die propalästinensische Parade bei der Schlusszeremonie in Erinnerung bleiben, die in geifernden Israel-Hass umschlug. Die Berlinale hatte David Cunio im Stich gelassen.
Während sich die damalige Co-Direktorin Mariette Rissenbeek dem Versäumnis immerhin bei der Aufarbeitung im Bundestag stellte und sich bei einer späteren Veranstaltung auch bei Tom Shoval für die fehlende Unterstützung entschuldigte, hat sich der damalige kreative Leiter Carlo Chatrian aus der Verantwortung gestohlen.
Inzwischen ist Tricia Tuttle an der Spitze des Festivals, und die Amerikanerin zeigt, wie man es besser macht. Nicht nur hat sie Tom Shovals Film «A Letter to David» ins Programm genommen. Bei der Eröffnungszeremonie hielt sie zusammen mit Filmschaffenden wie Julia von Heinz, Andrea Sawatzki und Ulrich Matthes auf dem roten Teppich Bilder mit der Aufschrift «Bring David Cunio Home» hoch.
Dennoch bleibt der richtige filmische Umgang mit dem Nahostkonflikt kompliziert. Das zeigte sich in einem zweiten Dokumentarfilm, der sich mit einer Hamas-Geisel beschäftigte, gezeigt in der Nebenreihe Forum. «Holding Liat» befasst sich mit dem Schicksal der Lehrerin Liat Beinin Atzili, die zusammen mit ihrem Mann ebenfalls aus dem Kibbuz Nir Oz entführt wurde.
Bruchlinien der israelischen Gesellschaft
Anders als Tom Shoval, der einen sehr persönlichen Zugang gewählt hat mit seinem sich zurücknehmenden, feinfühligen Film, klebt der Regisseur Brandon Kramer fast vom ersten Tag an regelrecht an den Angehörigen der Entführten.
Kramer ist mit den Beinins verwandt, das erklärt seinen schrankenlosen Zugang zu der Familie. Er zeigt, wie sich der Vater von Liat, Yehuda Beinin, nach Washington aufmacht, um die Unterstützung der Biden-Administration für die israelisch-amerikanische Doppelbürgerin zu gewinnen.
In der Familie liegen die Bruchlinien offen, die auch die israelische Gesellschaft spalten. Yehuda Beinin ist links, und sein Hass gilt fast mehr Benjamin Netanyahu als der Hamas, so hat man gelegentlich den Eindruck.
Yehuda Beinin will nicht nur Liat zurück, er will nebenbei den Nahostkonflikt lösen. Der Regisseur Brandon Kramer lässt ihn politisieren. Distanzlos begleitet er ihn, der Filmemacher möchte unmittelbar dabei sein in dem Geiseldrama. Dieses nimmt ein gutes Ende für Liat Beinin Atzili, sie wird nach 54 Tagen freigelassen. Doch ihr Mann ist tot. Und wie Liat damit umgeht, ist nicht einfach nachzuvollziehen.
Sie äussert sich fast wohlwollend über die palästinensische Familie, bei der sie die Geiselhaft verbracht hat. Dass sie sich dem Gefühl von Hass verweigert, ist bemerkenswert. Offenbar waren die Bedingungen bei ihr im Unterschied zu anderen ehemaligen Geiseln, die von unermesslichem Horror erzählten, verhältnismässig erträglich.
Liat will sich auch nicht zu einem Opfer machen lassen, sie will das Leben feiern. Vielleicht muss man es so verstehen, wenn sie an der Beerdigung ihres Mannes plötzlich ausgelassen zu tanzen beginnt. Verstörend ist es dennoch.
Und der Regisseur Brandon Kramer geht noch einen Schritt weiter. Er zeigt die Lehrerin nach ihrer Freilassung mit einer Schulklasse in Yad Vashem. Dort erzählt sie ihren Schülern, wie die SS im Warschauer Ghetto Häuser in Brand setzte und die Menschen ausserhalb der Ghettomauern so taten, als würden sie nichts mitbekommen.
Dann schneidet Kramer zu einer Szene mit Liat, als sie, zurück im Kibbuz, nach Gaza blickt und meint, dass man vielleicht nicht hingeschaut habe, was hinter der Grenze geschehe. Man habe sich nicht gekümmert. Die Analogie zum Warschauer Ghetto, die Liat Beinin Atzili und der Regisseur Brandon Kramer hier suggerieren, ist nicht nur fragwürdig, weil Israel vor zwanzig Jahren aus dem Gazastreifen abgezogen ist. Auch wenn es eine Israeli ist, die es nahelegt: Derartige Vergleiche führen unweigerlich zu einer Relativierung des Holocaust.
«Holding Liat» zeigt, wie schnell ein Film zum Nahostkonflikt falsch abzweigen kann. Das ändert aber nichts daran, dass er eindringlich vom Verbrechen der Hamas erzählt. Tricia Tuttle tat gut daran, ihn ins Programm zu nehmen. Nach der desaströsen Berlinale von letztem Jahr hat die neue Direktorin die einzig vernünftige Richtung vorgegeben – auch indem sie 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Claude Lanzmanns «Shoah» wiederaufführte.
Tilda Swinton bewundert BDS
Die Berlinale hat einen Lernprozess vollzogen. Tuttle macht vieles richtig. Dass ihr ausgerechnet ihr grösster Star in die Beine grätscht, ist bitter. Tilda Swinton, die Ehrenpreisträgerin in diesem Jahr, hat sich bei der Pressekonferenz als «grosse Bewunderin von BDS» bezeichnet. Mit anderen Worten würde sie alles, wo Israel drinsteckt, gerne aus der Welt schaffen.
Ausser natürlich, sie selbst wäre davon betroffen. Erst neulich habe sie in ihrem Instagram-Kanal einen BDS-Aufruf zum Boykott der Berlinale geteilt, gestand die Schauspielerin. Dann habe sie allerdings beschlossen, «dass es für mich wichtiger war, zu kommen». Denn dank dem Festival habe sie eine Plattform, die «für unser aller Anliegen möglicherweise nützlicher ist als mein Nichterscheinen», erklärte sie.
Tatsächlich ist es nützlich, dass Tilda Swinton gekommen ist. Aber nicht für sie und ihre Anliegen, das ist die schöne Ironie der Geschichte. Ihr Opportunismus und ihre Eitelkeit rächen sich. Durch ihr Erscheinen lenkt Swinton die Aufmerksamkeit auf Filme, die das Schicksal der Geiseln der Hamas beleuchten. Auf Filme, die es, wenn es nach Tilda Swinton ginge, gar nicht geben sollte.