Am Festival Sommets Musicaux de Gstaad lässt sich beobachten, wie die nachkommende Generation junger Künstler um ihren Platz in der heutigen Musikwelt kämpft, auch mit digitalen Mitteln.
An Idylle mangelt es nicht in Gstaad, an Finanzkraft ebenso wenig. Und doch sollte man auf Überraschungen gefasst sein an diesem mondänen Ort in den Bergen. Seit nunmehr 25 Jahren findet hier an neun Tagen im Winter das Festival Sommets Musicaux de Gstaad statt, seit 9 Jahren trägt es unverkennbar die Handschrift des künstlerischen Leiters Renaud Capuçon.
Mitten hinein in das Idyll setzt der französische Geiger jede Saison ein ungewöhnliches Programm, das mit Kontrasten spielt, zeitgenössische Komponisten fördert und neben grossen Namen auch konsequent junge Künstler in den Fokus rückt. Es ist eine durchaus eigenwillige Mixtur, die Capuçon bereits ähnlich bei seinem Festival de Pâques in Aix-en-Provence erprobt hat – sie scheint auch in Gstaad hervorragend zu funktionieren.
Eintrittskarte zur Karriere
Schauplätze der Aufführungen sind die Kapelle von Gstaad und die Kirchen von Rougemont und von Saanen, in denen diesmal Musiker wie Isabelle Faust, Yo-Yo Ma oder Elisabeth Leonskaja auftreten. Besonders aufschlussreich sind aber die Programmpunkte abseits des Gängigen, etwa eine «Odyssee der Sechzehntelnote», ein Projekt mit dem Comiczeichner Zep, der Auftritt des Chors «Les Métaboles» mit gewagten Arrangements von Ravel-Stücken für 24 Sänger oder Entdeckungen wie die selten gespielten «Stimmungsbilder» von Richard Strauss bei einer Soiree in der Kapelle.
Ebendort findet eine weitere Besonderheit des Festivals statt: ein Wettbewerb, der jeweils einem Instrument gewidmet ist und bei dem acht junge Musiker je ein Solokonzert und ein zeitgenössisches Auftragswerk gestalten, in der Vergangenheit etwa von Wolfgang Rihm oder Thierry Escaich. Im holzvertäfelten Kirchlein inmitten der Gstaader Einkaufsmeile dringen dann neue, ungewohnte Klänge ans Ohr. Im Vorfeld feilen die Künstler mit einem Mentor und mit dem Schöpfer des Werks an ihrer Interpretation. Am Ende der Woche wird ein Sieger gekürt, der als Preis eine Aufnahme mit Orchester gewinnt.
Im vergangenen Jahr hat Arthur Hinnewinkel diesen Prix Thierry Scherz erhalten, im März wird sein Album mit Schumanns Klavierkonzert erscheinen. «Es ist wahnsinnig schwer, als junger Künstler eine Aufnahme zu bekommen, noch dazu eine mit Orchester», sagt der 25 Jahre alte Amerikaner; dabei sei eine Einspielung, allen sinkenden Verkaufszahlen zum Trotz, nach wie vor sehr wichtig, wenn es darum gehe, Rezensionen und neue Engagements zu erhalten.
Als einer von etlichen Preisträgern wurde Hinnewinkel nun abermals zum Festival eingeladen, anlässlich des Jubiläums der Sommets gibt es diesmal nämlich statt des Wettbewerbs Konzerte der Preisträger. Auf der Bühne bestechen die Interpreten ausnahmslos mit einer Reife und Präsenz, die staunen macht. Doch spricht man mit den Nachwuchskräften abseits des Podiums, bekommt man eine Ahnung davon, was es bedeutet, im 21. Jahrhundert am Beginn einer Karriere zu stehen.
Kurz gesagt: Es ist kompliziert. Da sind Musiker wie Hinnewinkel, die Geigerin Anna Agafia, der Bratschist Paul Zientara oder der Pianist Guillaume Bellom. Was sie alle eint, ist die kompromisslose Hingabe an die Musik, für die – sie wie schon ihre Kollegen Jahrzehnte zuvor – anstrengende Reisen, schwankende Gagen und nervliche Strapazen auf sich nehmen. Neu aber ist die Übermacht von Social Media. Und damit verbunden: die gefühlte Notwendigkeit, neben der Bühne noch auf einem weiteren Podium bestehen zu müssen.
«Wir müssen die Balance wahren»
«Man muss interessant sein, und es geht längst nicht mehr nur um Talent und Persönlichkeit, sondern auch um deine Online-Präsenz und die Kunst der Selbstvermarktung. Das ist unglaublich anstrengend», sagt Agafia, und sie kenne etliche grossartige Musiker, die diesem Druck nicht gewachsen seien. Sie selbst nutzt die Kanäle mit Bedacht, ein Verzicht darauf kommt nicht infrage. «Es gibt Dirigenten, mit denen kommuniziere ich ausschliesslich via Instagram. Ich habe auf diesem Weg schon Konzertangebote bekommen», sagt die Geigerin. Aus Sicht von Patrick Peikert, der den Konzertbetrieb seit etlichen Jahrzehnten beobachtet und das Label Claves leitet, ist die Szene durch diese Möglichkeiten insgesamt demokratischer geworden.
«Früher waren die Hürden riesig, wenn man Zugang zu renommierten Künstlern und Veranstaltern bekommen wollte», sagt Peikert. In Zeiten von E-Mail, Facebook und Instagram sei es leichter, auch mit grossen Namen in Kontakt zu treten. Die Aussendarstellung hat mehr Bedeutung denn je, da sind sich alle jungen Künstler einig. Wie sehr sie das belastet, ist eine Frage des Typs und des Charakters.
Für Paul Zientara ist die digitale Präsenz Inspiration und Bürde zugleich. «Man kann in den Netzwerken viel entdecken», sagt der Bratschist, gleichzeitig würden in den Konzerten ständig Handys hochgehalten und danach Videomitschnitte online gestellt, die dann teilweise wüst kommentiert würden. «Wir müssen uns hier selbst gut schützen und die Balance wahren», sagt Guillaume Bellom.
Balance ist das Schlüsselwort, auch wenn es um den Umgang mit dem überbordenden Angebot der Streamingplattformen geht – ein weiteres Novum der heutigen Zeit. Arbeiten die jungen Künstler an einem klassischen Werk, stehen ihnen zum Vergleich meist unzählige Einspielungen zur Verfügung. Keine Kopie zu werden und angesichts der Fülle an bereits vorliegenden Deutungen den eigenen Weg zu finden, sei herausfordernd, sagt Bellom. Agafia wiederum erlebt das als Privileg. «Ich höre so viel wie möglich, um dann meine eigene Stimme zu finden inmitten all der Interpretationen», sagt die Geigerin.
Dass sie ihre künstlerische Stimme längst gefunden hat, erlebt man beim Abschlusskonzert des Festivals. Fern der digitalen Parallelwelt, ganz analog und unmittelbar, zelebrieren junge und längst etablierte Musiker in der Kirche von Saanen gemeinsam Kammermusik von Brahms. «Dieses Festival ist einer der wenigen Orte, an denen ich zusammen mit Legenden spielen kann», schwärmt Agafia über die Sommets Musicaux. Das schätzen auch ihre Mitstreiter. «Man spürt die riesige Erfahrung und hat das Gefühl, an die Hand genommen zu werden beim Musizieren», meint Hinnewinkel. Frei und gleichzeitig sicher fühle sich das an. «Wenn du jung bist, brauchst du dieses Vertrauen in deine Kunst», sagt Bellom. Spätestens aber wenn der erste Ton erklinge, sei klar: «Auf der Bühne sind wir alle gleich.»