Die Designerin Aita Bott und der Architekt Gian-Reto Rainalter haben ihre Kräfte gebündelt und sich mit zwei Natursteinhäusern im Veltlin ein zweites Zuhause geschaffen.
Gut zwanzig Autominuten sind es vom nördlichen Teil des Comersees nach Mello. Und im Vergleich zu den quirligen Städtchen am See geht es im Veltlin im Norden der Lombardei, an der Grenze zwischen Italien und dem Schweizer Kanton Graubünden, ganz ruhig und beschaulich zu.
Endlos schrauben sich die Kurven von dem gewaltigen Flusstal der Adda auf über 680 Meter Höhe. An den fruchtbaren Südhängen gedeihen im milden Klima Wein, Kastanien und Oliven.
Über 900 Bewohner leben noch in Mello. Neubauten gibt es in dem italienischen Dorf kaum, rurale Natursteinhäuser kleben an den steilen Bergen eng aneinander. Unweit vom Hauptplatz mit seinem weiten Blick ins Tal bis zum See, in einer schmalen Gasse versteckt, liegt das Refugium von Aita Bott (38) und Gian-Reto Rainalter (48). Die Schweizer Industriedesignerin und der Architekt, beide aus dem Engadin, haben sich in diesem kleinen Ort ein zweites Zuhause geschaffen.
Aita Bott und Gian-Reto Rainalter vor dem Haus aus dem 11. Jahrhundert.
Seit Mitte der achtziger Jahre besass sein Vater hier ein kleines Häuschen. Während seines Architekturstudiums war Gian-Reto Rainalter zwei Mal länger da, um in der Abgeschiedenheit zu lernen. Im Jahr 1997 erwarb der Vater im Namen seines Sohnes ein stark verfallenes Gemäuer, um daraus eine Garage zu machen. Gleich ein Jahr darauf kaufte er noch günstig das gegenüberliegende kleinere Natursteinhaus. Lange Zeit passierte nichts.
Komplette Sanierung mit raffinierter Lichtplanung
Im Jahr 2005 beschloss Gian-Reto Rainalter, die archaischen Gebäude selbst zu nutzen. Der Engadiner fand Gefallen an der südlichen Lebensart und dem warmen Klima, vor allem aber an der beschaulichen Lage abseits der touristisch voll erschlossenen Zentren in der Gegend.
Das Dach des grösseren Hauses liess er mit einem Edelstahlblech decken, und er liess neue Lärchenholzfenster einbauen. Ein Jahr nachdem er seine jetzige Frau Aita Bott 2011 kennengelernt hatte, fuhr er mit ihr in seine zweite Heimat Italien. Worauf nach und nach die Idee reifte, das Haupthaus mit rund 67 Quadratmetern, dessen Grundmauern gemäss einem Gutachten bis ins 11. Jahrhundert zurückreichen, komplett zu sanieren.
Viele Stunden diskutierte das Paar in den kalten Wintermonaten im Oberengadin, wie sich die beiden Objekte am besten nutzen liessen. Im grösseren sollte unter dem Dach der Wohnbereich mit angeschlossener Loggia entstehen, im Erdgeschoss ein Lesebereich mit einem Schlafsofa und ein Bad. Im kleineren, etwa 32 Quadratmeter grossen Refugium planten sie unter dem Giebel das Schlafzimmer und im Erdgeschoss ein zweites Bad mit freistehender Wanne.
Die Steinmauern blieben bei beiden Domizilen erhalten, ebenso die alten Fenstergitter. Das Paar stellte sich vor, wie es in Zukunft den Innenhof zum Relaxen nutzen würde. Eine weitere zentrale Frage war, wie man Licht in die Räume bringen würde ohne die charakteristische Architektur zu verändern.
Damit Tageslicht in das Haupthaus dringen kann, öffnete der Architekt das Satteldach an einer Seite fast über die gesamte Länge von 4 Metern 50 und liess ein Glasband einbauen. Davon profitiert nicht nur der offene Wohn-, Ess- und Kochbereich, sondern auch das Erdgeschoss, weil Gian-Reto Rainalter einen Luftraum zwischen der neuen Geschossdecke aus massiven Lärchenholzbalken und der Treppe gelassen hat.
Raffiniert ist auch die Lichtplanung im Erdgeschoss. In die ehemalige Stalltür liess er einen Holzrahmen mit verglaster Drehtür montieren. Durch das subtile Lichtspiel kommen die neuen Kalkputzwände mit ihrer unregelmässigen Textur eindrucksvoll zur Geltung.
Ein Bad mit rauchschwarzen Wänden
Betritt man die untere Ebene, fällt der Blick gleich auf eine ausgefallene Holzkonstruktion, die Aita Bott entworfen hat. Sie ist Stauraum, Regal und Treppe zugleich. Davor entstand ein kleiner Sitzplatz mit Vintage-«Side Chairs» von Charles Eames.
Gegenüber, in der ehemaligen Küche, liegt jetzt das minimalistische Bad. Die Farbgestaltung hängt mit der früheren Nutzung zusammen: «Wir haben eine schwarze Spachtelmasse aufgezogen, weil die Wände ganz dunkel waren vom Rauch», erzählt Gian-Reto Rainalter. Die Badewanne aus San Fedelino, einem Granit aus der Gegend, ragt in den früheren Keller. «Das kleine horizontale Fenster ist der obere Teil seiner Eingangstür», erklärt er.
Schlicht und elegant: Das Badezimmer des Paares im Haus in Mello.
Passend zu den sichtbaren Lärchenholzbalken des Obergeschosses liess der Architekt auf dem Boden in lange Streifen geschnittene Granitplatten verlegen. Den ikonischen Holzsessel «Dschember» aus massiver Arve entwarf die Designerin. Es ist das feine Gespür für die Sinnlichkeit der Naturmaterialien, das das Interieur prägt.
Das Obergeschoss ist das kommunikative Zentrum des Paares. Viele Mid-Century-Möbel kombinierten die Kreativen mit Erbstücken. Der freistehende Küchenblock aus lackierten MDF mit einer Oberfläche aus Schwarzstahl, der bündig mit der neu eingezogenen Lärchenholzdecke abschliesst, nimmt fast die gesamte Breite ein. Die zwei Resopal-Tische und die Essplatzstühle sind von Aita Botts Grossmutter.
Aus den 1960er Jahren ist das kleine Schränkchen, das Aita Bott aus Berlin mit nach Mello brachte. Sie arbeitete nach ihrem Studium an der Écal, einer der weltweit führenden Universitäten für Kunst und Design, und für mehrere Jahre in der deutschen Hauptstadt in unterschiedlichen Studios.
Auch der drehbare Sofatisch fand den Weg von Berlin übers Engadin nach Mello. Die noble Sitzmöbelgarnitur aus dem Historismus wurde neu aufgepolstert. Das Paar entschied sich für elegante Veloursbezüge in Taubenblau von Hermès, um den wertvollen Antiquitäten gerecht zu werden. Lieblingsplatz der Familie – vor wenigen Monaten ist die Tochter Norina Urezza geboren – ist die Loggia. Als Brüstung dienen Bänke, die mit der Rückenlehne nach aussen in bestehende Maueröffnungen eingebaut wurden.
Erbstücke der Grossmutter finden in der Küche des Paares Platz, die antiken Möbel im Wohnzimmer wurden aufgepolstert.
Von hier oben hat man einen überraschenden Blick auf den sichtgeschützten Innenhof. In den legeren Liegestühlen, die 1936 für den Lido in Locarno entworfen wurden, geniesst das Paar die Sonne. Über eine für diese Region typische Aussentreppe gelangen die beiden nach unten auf einen kleinen Weg, der zu einem um die Ecke gelegenen Brunnen führt. Dort holen sie sich frisches Quellwasser, das von den Bergen kommt.
Im kleineren Baukörper wurde im Eingangsbereich ein Zementboden gegossen und so weit abgeschliffen, bis die Natursteine ebenso sichtbar wurden. Eine skulpturale Treppe aus unbehandeltem Schwarzstahl, an deren Stirnseite eine Toilette versteckt ist, charakterisiert das Wannenbad im Erdgeschoss.
Phantasievolle Lichtgeschöpfe von Aita Bott
Wie durchdacht Gian-Reto Rainalter im Detail arbeitet, sieht man an den Stahlträgern: Sie haben exakt die Höhe der Stufen. Darauf liegen statt Holz hauchfeine Stahlplatten, um so noch mehr Raumhöhe im Schlafzimmer zu generieren. Attraktiver Blickfang sind die schwarzen Design-Leuchten «Raw like Sushi» aus Kabelbindern über dem Bett, die Aita Bott während ihres Studiums entwarf. Die fischähnlichen Gebilde beherbergen in ihrem Inneren eine LED-Glühbirne.
Erneut war das Thema Tageslicht eine grosse Herausforderung. Auch hier gibt es unter dem Dach die für diese Region typischen Maueröffnungen, durch die Luft zirkulieren kann und so für eine natürliche Kühlung sorgt. Die bewährte Klimatechnik, die schon Jahrhunderte funktioniert, behielt Gian-Reto Rainalter bei. Um Helligkeit in das Schlafzimmer zu lenken, liess er im Inneren, etwa 1 Meter 50 von der Traufe entfernt, auf beiden Längsseiten in die Holzwände Fenster einbauen.
Die spektakuläre Konstruktion liegt auf uralten Kastanienholzbalken. In der Mitte unter dem First blieb ein wunderbarer Luftraum frei, der spannende Blickachsen ermöglicht. Die phantasievollen Lichtgeschöpfe von Aita Bott sorgen für ein zauberhaftes Flair.