Ein Diktatfrieden gegen die Ukraine könnte einem Kriegsverbrechen nachträglich eine Legitimation verschaffen. Es wäre eine schwerwiegende Desavouierung völkerrechtlicher Verpflichtungen.
Als Russland vor drei Jahren die Ukraine überfiel, verstiess es eklatant gegen die Charta der Vereinten Nationen und die Satzungen des Völkerrechts. Doch Putin berief sich in einem Brief an die Uno noch am Tag der Invasion unverfroren auf Artikel 51 der Charta, der ausdrücklich das Recht auf Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff festhält.
Putins zynische Rechtfertigung hatte zwei Präzedenzen: Präsident Bushs «Krieg gegen den Terror», der die Invasion in Afghanistan am 7. Oktober 2001 einleitete, und den Einmarsch im Irak am 20. März 2003. Das waren aber keine echten Präzedenzen. Denn obwohl Bush eine Legitimierung des Angriffs auf den Irak durch die Uno anstrebte, da der Irak angeblich Massenvernichtungswaffen besass, hat er diese Zustimmung nie erhalten.
Putins Hinweis auf Präzedenzfälle war demnach nichtig. Um sein Verhalten zu rechtfertigen, machte Putin darum einen ungewöhnlichen Schritt. Er legte seinem Brief an die Uno eine Kopie seiner langatmigen Rede an die Nation bei. Als Grund für den Krieg nannte er die Expansion der Nato nach Osten. Als Präzedenz führte er abermals die Invasion im Irak an. Putin bestand darauf, dass sein Angriff gegen die Ukraine analog zum Irakkrieg als Verteidigungskrieg anzusehen sei.
Den eigentlichen Rechtsbruch hielt er dem Westen vor: «Die alten Verträge und Vereinbarungen sind nicht mehr bindend.» Es sei, so Putin, der Westen gewesen, der «das ganze System der Weltordnung» zerstört habe. Einerseits verlieh Russland dem Versuch, die Aggression als Akt der Selbstverteidigung zu tarnen, den Anschein der Legalität, indem er sich auf die Uno-Charta bezog. Anderseits gestand Putin damit implizit die Unrechtmässigkeit seiner Handlung, da er dafür Bushs eigenmächtigen Überfall zitierte, der eben gerade nicht die Zustimmung der Uno erhalten hatte.
Um seinen Standpunkt zu erhärten, beschuldigte Putin die Ukraine des Neonazismus. Damit stilisierte er die Invasion zur Fortsetzung des Zweiten Weltkriegs. Er stellte sich auf die Seite der Alliierten und der Nürnberger Prozesse, in denen die Nazis wegen Genozids und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt worden waren. Damit vollzog er eine perfide Umkehrung der Fakten, zumal sein Einmarsch durch zahllose Kriegsverbrechen begleitet wurde. Er beging diese unter dem Vorwand, angebliche ukrainische Neonazis daran hindern zu wollen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen.
Machtlose Uno
Die seit Jean Bodin im 16. Jahrhundert gefeierte staatliche Souveränität hatte plötzlich als leitende Idee jedes Staatswesens ihre Gültigkeit verloren. Die Ukraine bestand aber auf ihrer Souveränität. Ihr Parlament hatte am 16. Juli 1990 das Plebiszit ratifiziert, das die Unabhängigkeit der Ukraine mit einer Mehrheit von 92 Prozent befürwortet hatte.
Zu Bodins Grundsätzen gehört, dass Staaten ihre Beziehungen nach Treu und Glauben regeln sollen. Putin zerbrach dieses hehre Prinzip und statuiert, dass Krieg zwecks Kolonisierung berechtigt sei. Man muss etwa zu Deutschlands Zertrümmerung der Tschechoslowakei ab 1938 oder zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zurückgehen, um eine vergleichbare Lage zu finden. So ging das Einvernehmen zu Ende, das seit Jahrzehnten den Frieden im Westen garantiert hatte.
Ein ständiges Mitglied des Uno-Sicherheitsrats war in einen anderen Mitgliedsstaat einmarschiert. Damit war Putin weit über das von Bush im Irak gesetzte Mass hinausgegangen. Es ging nicht mehr darum, einen Feind zu befrieden, sondern darum, einen freien Staat zu kolonisieren. Nachdem ein Veto Russlands eine Verurteilung der Invasion im Uno-Sicherheitsrat verhindert hatte, verurteilte die Uno-Generalversammlung am 2. März 2022 mit 141 gegen 5 Stimmen bei 35 Enthaltungen Russlands Aggression.
Hingegen vermag die Uno nicht, die russischen Kriegsverbrechen auch zu ahnden: Sie reichen von Folter über Erschiessungen bis zu Vergewaltigungen und Deportationen. Dafür braucht es eine andere Institution. Wie Geoffrey Robinson in der Neuauflage seines fulminanten Standardwerks zum Internationalen Strafgerichtshof, «Crimes Against Humanity» (2024), schreibt, gab der Holocaust den entscheidenden Impuls, ein internationales Gericht zur Verfolgung von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu gründen. Vorbild war dabei das Nürnberger Tribunal.
Die Neuauflage seines Buches bringt die Diskussion mit einem neuen Kapitel über die Ukraine auf den letzten Stand. Robinsons Buch ist erfrischend in der Art, wie es juristische Sachlichkeit mit humanistischem Engagement verbindet. Robinson scheut sich nicht, seine Ausführungen mit der sarkastischen Feststellung zu beenden, dass Putin natürlich auch den Frieden wolle – «den Frieden des Massengrabs».
Haftbefehl gegen Putin
Die im Zweiten Weltkrieg in England und den USA exilierten Juristen Hersch Lauterpacht, Raphael Lemkin und Hans Kelsen haben die ersten Pläne für ein internationales Strafgericht ausgearbeitet. Es dauerte jedoch bis zum 17. Juli 1998, ein solches Gericht zu gründen. Die massgebliche Römische Satzung wurde von 120 Nationen – ohne die USA – befürwortet und am 25. Juli 2012 von 121 Staaten ratifiziert.
Die Gerichtsbarkeit ist gemäss der Satzung «auf vier besonders schwere Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und (eingeschränkt) das Verbrechen der Aggression». Diese Vervollkommnung der seit 1945 errichteten Weltordnung hat Russland am 24. Februar 2022 zerschmettert.
Am 16. März 2023 hat der Menschenrechtsrat den Bericht der unabhängigen internationalen Kommission zur Untersuchung der Lage in der Ukraine veröffentlicht. Darin wurden Greuel wie die Bombardierung des Theaters in Mariupol und die Erschiessung von zahllosen Zivilisten in Butscha festgehalten. Am Tag darauf hat das Internationale Strafgericht einen Haftbefehl gegen Präsident Putin erlassen. Es war das erste Mal, dass das Staatsoberhaupt eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats zur Verhaftung ausgeschrieben wurde.
Wie Nazi-Deutschland in Nürnberg beschuldigt wurde, soll auch Putin ein «Verbrechen gegen den Frieden» begangen haben. Die Nürnberger Richter nannten dies das Schlimmste aller Vergehen, das zahllose weitere Kriegsverbrechen zur Folge hatte. In der Ukraine hatte man Schulen, Spitäler, Privathäuser und öffentliche Einrichtungen bombardiert, standesrechtliche Erschiessungen, Folter und Vergewaltigungen begangen und gezielte Drohnenangriffe auf einzelne Zivilisten verübt.
Tausende unschuldige Ukrainer und russische Soldaten kamen ums Leben. Das Vergehen, für das man Putin haftbar machte, war die Deportation von Tausenden Kindern nach Russland. Es war einfach, Putin anzuklagen, da er öffentlich damit geprahlt hatte, Kinder entführt, deportiert und eingebürgert zu haben. Insgesamt waren es etwa 16 000 Fälle.
Putin und seine Satrapen machten sich schuldig, einen Angriffskrieg begonnen zu haben. Nach der Römischen Satzung bedeutet dies: Invasion, Bombardierung, Blockade oder Angriff auf die Armee oder die Luftwaffe eines anderen Staates. Untersagt ist auch der Einsatz von Söldnern. Alle diese Verbrechen haben die russischen Führer beordert und begangen. Putin und alle Mitglieder seines am 21. Februar 2022 einberufenen Sicherheitsrats machten sich schuldig.
Am 24. Juni 2024 hat das Internationale Strafgericht zwei weitere hohe Russen beschuldigt, «bewusste Aktionen gegen Zivilisten» begangen zu haben. Da Putin als Oberbefehlshaber von den Untaten wusste, ohne sie zu untersuchen oder zu bestrafen, ist er an allen Verbrechen mitschuldig. Präsident Selenski begrüsste den Haftbefehl. Der russische Vertreter in der Uno nannte ihn «leer und nichtig». Putin schwieg.
Zwei Tage später traf er den chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Ein Abkommen über die Lieferung von Waffen stand auf der Tagesordnung. Nichts geschah. Es kann sein, dass Xi sich von einem Kriegsverbrecher distanzieren wollte. Die 123 Staaten, die inzwischen das Gericht unterstützen, sind verpflichtet, Putin zu verhaften, wenn er ihr Territorium betritt.
Es drohen weitere Kriege
So zerbrach Putins paranoide Umkehrung der Wahrheit, die ihn selbst als den eigentlichen Faschisten ausweist. Er hat gegen die im frühen 17. Jahrhundert von Hugo Grotius formulierten, allgemeingültigen Kriegsregeln verstossen. Gemäss diesen bietet weder die Eroberung noch die Befreiung einen gerechten Grund für Krieg. Zwischenstaatliche Konflikte müssen auf dem Verhandlungsweg gelöst werden.
Russlands Krieg gegen die Ukraine stellt die internationale Staatengemeinschaft vor schwere Aufgaben, wie der aufschlussreiche Sammelband «Global Impact of the Ukraine Conflict» (2024) zeigt. Von Institutionen wie der Uno bis zu den Satzungen des Sicherheitsrates werden zentrale Grundprinzipien, die seit fünfundsiebzig Jahren die Staatengemeinschaft zusammenhalten, infrage gestellt.
Es besteht die Gefahr, dass Trumps Drohung gegen Panama und Grönland und Xis Anspruch auf Taiwan im Ukraine-Krieg eine willkommene Legitimation finden. Umso gefährlicher wird die Lage, wenn der Krieg in einen sogenannten eingefrorenen Konflikt übergeht: Es entstünde eine permanente Unsicherheit an der Grenze zwischen Russland und den Nato-Ländern. Das Gleichgewicht der Kräfte wäre aufgehoben. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht, ist nichts Geringeres als die Weltordnung.
Jeremy Adler ist Germanist und lehrte am King’s College in London.