Ab 1977 war Silke Maier-Witt Mitglied der RAF. Zwei Jahre später stieg sie aus und tauchte unter. Jetzt zieht sie Bilanz.
Am 7. April 1977 wird Generalbundesanwalt Siegfried Buback erschossen. In Karlsruhe, kurz nach neun Uhr morgens, auf dem Weg zur Arbeit. Als sein Dienstwagen an einem Rotlicht halten muss, fährt von rechts ein Motorrad heran. Die Person auf dem Soziussitz schiesst auf das Auto, Buback wird getroffen und stirbt wenige Minuten später. Zur Tat bekennt sich das «Kommando Ulrike Meinhof» der Rote-Armee-Fraktion. In einem Bekennerschreiben wird Buback vorgeworfen, für den Freitod der RAF-Terroristen Ulrike Meinhof, Holger Meins und Siegfried Hausner verantwortlich zu sein. Buback hatte Einzelhaft für sie angeordnet. Die Terroristen reden von «Isolationsfolter».
Buback ist das elfte Opfer der RAF. Seit Anfang der siebziger Jahre führt die Terrorbande einen Krieg. Gegen den deutschen Staat, die Institutionen, die Justiz. Gegen den «internationalen Imperialismus», sagen die Terroristen. Was das genau heisst, bleibt nebulös. Aber sie kennen keine Skrupel. Dass sie Menschen töten, ist ihnen egal. Beim Attentat in Karlsruhe kommt auch Bubacks Fahrer ums Leben. Der Polizeibeamte, der ihn begleitet, wird durch mehrere Schüsse schwer verletzt und stirbt ein paar Tage später im Krankenhaus.
An dem Tag, an dem Siegfried Buback ermordet wird, wird Silke Maier-Witt Mitglied der RAF. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt und schon seit zwei Jahren mit den «Illegalen» in Kontakt. Sie arbeitet für sie: erledigt Botendienste, Transporte, kundschaftet sichere Grenzübergänge aus. Auch am 7. April 1977 hat sie einen Auftrag. Sie muss eine Nachricht überbringen. Am frühen Morgen macht sie sich in Stuttgart auf den Weg nach Amsterdam.
Mit Eisenbahn und Bus. Und auf Umwegen. Maier-Witt ist vorsichtig. Als Sympathisantin der Terroristen steht sie unter Beobachtung des Bundeskriminalamtes. Sie will sicher sein, dass sie allfällige Verfolger abgeschüttelt hat, bevor sie ihre Verbindungsleute trifft. Zunächst fährt sie Richtung Hamburg. Auf der Strecke steigt sie aus, irgendwo, nimmt einen Regionalzug. Die Grenze überschreitet sie an einem unscheinbaren Zollposten, der nicht kontrolliert wird.
Kronzeugin
«Die müssen sich auf mich verlassen können», schreibt sie in ihren Memoiren, die unter dem Titel «Ich dachte, bis dahin bin ich tot» erschienen sind. Klingt da, fast fünfzig Jahre später, noch immer Stolz auf gut gemachte Arbeit durch? Vielleicht, doch die Bilanz, die die heute Fünfundsiebzigjährige zieht, ist illusionslos. Silke Maier-Witt schildert ihren Weg in die RAF und ihr Leben nach dem Leben als Terroristin nüchtern.
Zwei Jahre lebt sie im Untergrund. Dann steigt sie aus und lebt in der DDR. Nach dem Untergang der DDR wird sie festgenommen, verurteilt und kommt in Haft, aus der sie nach fünf Jahren vorzeitig entlassen wird, weil sie von der Kronzeugenregelung Gebrauch macht. Wieder in Freiheit, beendet sie ihr Psychologiestudium, findet wegen ihrer Vergangenheit nur schwer eine Stelle und arbeitet schliesslich bis zur Pensionierung für ein Friedensprojekt auf dem Balkan. Heute lebt sie in Mazedonien.
Silke Maier-Witts Erzählung ist manchmal erstaunlich detailliert, so dass man Einblick erhält in den Maschinenraum der RAF. Man spürt etwas von der zwischen überheblicher Selbstsicherheit und Paranoia schwankenden Stimmung, in der die damaligen Köpfe, Brigitte Mohnhaupt, Peter-Jürgen Boock und Sieglinde Hofmann, sogenannte «Aktionen» planten. Dazwischen werden die Schilderungen allerdings auch wieder schwammig. Besonders da, wo heute noch Fragen offen sind.
Zu den Details der Entführung von Hanns Martin Schleyer sagt Maier-Witt nicht viel mehr als das, was man schon wusste. Über vieles sei sie gar nicht im Bild gewesen, behauptet sie. Wer Schleyer erschossen habe, wisse sie nicht, und über die Bedingungen, unter denen er festgehalten wurde, äussert sie sich nur summarisch. Obwohl: In die Planung des Attentats war sie involviert.
Wie eine Soldatin
Zunächst musste sie Informationen sammeln, über Personen aus der deutschen Wirtschaft und Politik. Dass eine Entführung geplant gewesen sei, sei ihr bald klar gewesen, erzählt sie. Nur wer entführt werden solle, habe sie erst im letzten Augenblick erfahren. Nach Schleyers Erschiessung allerdings, am Morgen des 18. Oktobers 1977, war es Maier-Witt, die bei der Redaktion der französischen Tageszeitung «Libération» anrief und das Statement der Entführer verlas.
«Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet», lautete der erste Satz der Erklärung. Und an den damaligen Bundeskanzler gerichtet: «Herr Schmidt, der in seinem Machtkalkül von Anfang an mit Schleyers Tod spekulierte, kann ihn in der Rue Charles Péguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeichen abholen. Für unseren Schmerz und unsere Wut über die Massaker in Mogadiscio und Stammheim ist sein Tod bedeutungslos.»
Aus den Zeilen spricht eine Kälte, ein Zynismus der Gewalt, der einen noch heute erschauern lässt. Damals habe sie nicht viel über die Erklärung nachgedacht, schreibt Maier-Witt. Ihre Gefühle habe sie ausgeschaltet: «Ich habe wie eine Soldatin funktioniert.» Wenn sie heute an diese Worte denke, schäme sie sich. Vierzig Jahre nach dem Anschlag, im Herbst 2017, trifft sie sich mit Schleyers Sohn Jörg. Sie hat um das Gespräch gebeten. Eine Fernsehdokumentation habe den Anstoss dazu gegeben, sagt sie. Sie möchte sich entschuldigen, persönlich.
Das Treffen verläuft freundlich, aber angespannt. Und für Jörg Schleyer enttäuschend. Wurde sein Vater gequält, gedemütigt? Wie sind die letzten Stunden vor seinem Tod verlaufen? Wusste er, dass er getötet wird? Wie wurde er hingerichtet? Die Fragen bleiben auch nach dem Gespräch offen. Er habe Maier-Witts Entschuldigung angenommen, sagte Schleyer später. Vergeben könne er ihr nicht. «Das ist mehr, als ich erwarten konnte», schreibt sie. «Ich selbst bin froh, dass dieses Treffen stattgefunden hat. Nach so langer Zeit musste ich diesen Schritt tun.»
VIP der Stasi
Über die zweite Generation der RAF erfährt man aus Silke Maier-Witts Buch nicht viel Neues. Auch über den Banküberfall in Zürich nicht, bei dem im November 1979 eine Passantin erschossen wurde. Maier-Witt war in die Planung involviert, aber offenbar auch da nicht in Einzelheiten eingeweiht. Sie war keine zentrale Figur der RAF. Auch wenn sie zum innersten Kreis gehörte, übertrug man ihr vor allem Hilfsarbeiten: Wohnungen und Autos mieten, Waffen transportieren, geeignete Ziele für Überfälle und Fluchtwege auskundschaften, zum Beispiel für das Attentat auf Alexander Haig, den Oberbefehlshaber der Nato. Und man gab ihr nur die Informationen, die sie brauchte, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Eine Waffe bekam sie jedenfalls und musste lernen, damit umzugehen. Davon erzählt sie mit einer Mischung aus Teilnahmslosigkeit und Entsetzen: «Ich nehme diese tödliche Waffe in die Hand und tue so, als sei das selbstverständlich.» Peter-Jürgen Boock, der Waffenexperte, instruiert sie. Sie ist sich bewusst, dass sie sich bereit erklärt zu töten, wenn es nötig ist: «Wann ist das nötig?», schreibt sie im Rückblick: «Ich denke nicht darüber nach, und es wird auch nicht darüber gesprochen.» Schon nach dem Schleyer-Mord fällt es Silke Maier-Witt schwer, die «Aktionen» vor sich selbst zu rechtfertigen.
Nach dem Überfall in Zürich steigt sie aus. Und da beginnen die interessantesten Teile des Buchs: Maier-Witt geht mit anderen RAF-Aussteigern in die DDR und wird von Parteikadern und Stasi mit offenen Armen empfangen. Als VIP gewissermassen. Man gibt ihr eine neue Identität, zweimal sogar, weil sie einmal aufzufliegen droht. Sie bekommt eine Wohnung, eine Stelle und lässt sich von der Stasi als inoffizielle Mitarbeiterin anwerben. Sie versteht sich allerdings nicht als «klassischen Spitzel», was immer das heisst. Sogar in die SED tritt sie ein.
«Ich nehme ihn hin, diesen Mord»
Die Zeit in der DDR habe ihr geholfen, Distanz zur RAF zu gewinnen, schreibt sie: «Nach und nach wurde mir klar, wie sinnlos die Politik der RAF war.» Immer wieder stellt sie sich die Fragen: Warum? Wie konnte ich? Was war mit mir los? Sie versucht sich darüber klarzuwerden, wie sie zur Terroristin wurde: «Die wichtigste Frage, die mich bis heute umtreibt: Wie genau ist der Prozess abgelaufen, an dessen Ende ich mich freiwillig einer Gruppe anschloss, die das Töten von Menschen für politische Ziele in Kauf nahm?»
Eine klare Antwort findet sie nicht. Nur Bruchstücke einer Erklärung: die schwierige Kindheit und Jugend in einer lieblosen Familie. Sie möchte Anerkennung finden, aufgehoben sein, irgendwo dazugehören. Aus diesem Wunsch heraus beginnt sie Anfang der siebziger Jahre für die Strafverteidiger der RAF zu arbeiten. Leitet Kassiber der Gefangenen von Stuttgart Stammheim von den Anwälten an die RAF-Mitglieder weiter, die sich versteckt halten. Bis sie selbst zur Terroristin wird. Und auf Fahndungslisten landet.
Als Silke Maier-Witt am 7. April 1977 in Amsterdam eintrifft, kommen ihre Verbindungsleute zu spät. Aber sie sind gut gelaunt. Nach dem Buback-Attentat – sie sprechen von der «erfolgreichen Aktion» – hätten sie sich erst versichern wollen, dass ihre Leute in Sicherheit seien. «Natürlich weiss ich, wer Buback ist», erinnert sich Maier-Witt im Buch an den Augenblick: «Bin ich entsetzt? Will ich genauer wissen, wie die Aktion gelaufen ist? Nein. Er ist verantwortlich für den Tod von Holger Meins, Siegfried Hausner und Ulrike Meinhof, sagt die RAF. Und was sage ich? Ich nehme ihn hin, diesen Mord.»
Silke Maier-Witt (mit André Groenewoud): Ich dachte, bis dahin bin ich tot. Meine Zeit als RAF-Terroristin und mein Leben danach. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2025. 384 S., Fr. 39.90.