Nach einer Tätlichkeit gegen einen Sänger schien die Karriere des britischen Dirigenten vor dem Aus. Doch der bald 82-Jährige kämpft sich seit Ende 2024 zurück. Jetzt nutzt er beim Tonhalle-Orchester Zürich seine zweite Chance eindrucksvoll.
Er stand vor einem Scherbenhaufen. Als John Eliot Gardiner im August 2023 wegen einer Lappalie in Streit mit einem Sänger geriet und den Kollegen schliesslich in einer Kurzschlusshandlung ohrfeigte, glaubte man das Ende seiner bis dahin so glanzvollen Karriere gekommen. Das mediale Echo war gewaltig, denn dass einer der bedeutendsten Dirigenten derart die Kontrolle über sich und seine Emotionen verlieren könnte, das erschien einmalig, ja unvorstellbar.
Fast ohne Beispiel ist freilich auch, wie Gardiner in den gut anderthalb Jahren seither um eine Rehabilitierung gekämpft hat. Statt, wie leider gängig, nach Ausflüchten zu suchen, gestand er die Grenzüberschreitung sofort ein; er begab sich in Therapie und zog sich ein Jahr lang vom Pult zurück. Unter die Zusammenarbeit mit seinen beiden Ensembles, den English Baroque Soloists und dem Monteverdi Choir, die er an die Weltspitze geführt hat, wurde unterdessen ein Schlussstrich gezogen. Mit neugegründeten Ensembles beginnt der bald 82-Jährige nun noch einmal von vorn. Man muss dies im Kopf haben, um zu ermessen, wie wichtig seine beiden jüngsten Gastauftritte beim Tonhalle-Orchester waren.
Unerbittlicher Altersstil
Die Tonhalle-Gesellschaft hat Gardiner zwar nie zur Persona non grata erklärt, aber unausgesprochen steht er auch hier – wie überall und wohl noch für lange Zeit – unter strenger Beobachtung. Der Makel des Übergriffs wird an seiner Biografie haften bleiben. Der Entscheid der Tonhalle, die 2015 begonnene Kooperation fortzusetzen, ist trotzdem richtig. Moralische Ambiguität schafft man nämlich nicht dadurch aus der Welt, dass man einen gestrauchelten Künstler öffentlich zum Schweigen bringt. Der Druck auf Gardiner, sich fortan bei jedem Engagement zu bewähren, dürfte gleichwohl erheblich sein. Zum Glück spürt man wenig davon im Zürcher Konzert.
Konzilianter oder gar milder ist Gardiner dennoch nicht geworden. Das zeigt gleich der Beginn mit Beethovens «Egmont»-Ouvertüre: Die Musiker spielen, soweit möglich, im Stehen – ein Novum; aber die Musik, sie brennt, drängt und ringt mit der Welt vom ersten, herrischen Fortissimo-Schlag an bis zur abschliessenden «Siegessinfonie», die obendrein eher trotzig als verklärend tönt. Das ist nicht bloss ein zahmes Echo jener Unerbittlichkeit, die schon vor 2023 zu einem Kennzeichen von Gardiners Altersstil geworden war. Gleichzeitig verleiht er den leisen Stellen einen dunklen Verzweiflungston, der die Monumentalität des Stückes bricht.
Ungewöhnliche Aufstellung
Spielerischer, auch humorvoller geht es danach in Beethovens 1. Klavierkonzert mit Piotr Anderszewski zu. Die Aufführung erreicht allerdings nicht ganz jene abgeklärte Leichtigkeit, die Martha Argerich erst jüngst wieder in Luzern an den Tag legte. Auch deshalb, weil Anderszewski eher ein Pianist der leisen, verinnerlichten Töne ist, wie er äusserst nuanciert im Mittelsatz und in den zwei (!) Zugaben von Bach und von Bartók unter Beweis stellt.
Mit der 5. Sinfonie von Jean Sibelius überrascht Gardiner danach alle. Der Grossmeister der historischen Aufführungspraxis bringt Licht und rhetorische Klarheit in diese oft nordisch verhangene Spätromantik. Dabei hilft die ungewöhnliche Aufstellung der Kontrabässe: Es sind zwei weniger als üblich, aber die sechs stehen aufgereiht oberhalb des Orchesters, direkt vor der Orgel; die sonst leicht übermächtige Pauke rückt nach rechts. Dies gibt dem gerade bei Sibelius so wichtigen Bassfundament eine Prägnanz und Durchhörbarkeit, die man künftig auch für andere Werke nutzen sollte. So etwas als Gastdirigent zu initiieren, dazu braucht es einen Interpreten vom Rang und von der künstlerischen Willensstärke eines Gardiner.