Wir können das Magnetfeld der Erde weder sehen noch schmecken. Doch Meeresschildkröten nehmen es gleich mit zwei separaten Sinnen wahr und nutzen es zur Navigation. Auf der Spur eines der grössten Rätsel der Biologie.
Nein, man möchte keine frisch geschlüpfte Meeresschildkröte sein. Erst wenige Minuten alt, muss sie einen Spiessrutenlauf überleben, vom im Sand vergrabenen Nest quer über den Sandstrand, vorbei an Möwen, Strandkrabben und anderen Räubern.
Hat sie diese ersten Minuten überlebt und es in die vergleichsweise sicheren Wogen des Meeres geschafft, beginnt eine jahrelange Odyssee durch den gleichfalls gefährlichen Ozean. Nur mit viel Glück wird man alt genug, um für die Eiablage an die heimischen Ufer zurückzukehren. Aber dafür muss man nach Jahren auf hoher See erst einmal seinen Heimatstrand wiederfinden.
Für unsereinen wäre das ohne technische Hilfe eine kaum lösbare Aufgabe. Doch die Evolution hat Meeresschildkröten mit einem geheimnisvollen sechsten Sinn ausgestattet, der ihnen navigatorische Meisterleistungen erlaubt: Magnetorezeption, die Fähigkeit, das Magnetfeld der Erde wahrzunehmen.
Der Magnetsinn ist im Tierreich keine Seltenheit
Damit sind sie nicht allein: Ein magnetischer Orientierungssinn wurde schon bei vielen Tierarten nachgewiesen, von Fadenwürmern über Ameisen, Schmetterlinge und Krebse bis zu verschiedenen Säugetieren. Besonders ausgeprägt ist er bei Zugvögeln und anderen Tieren, die wandern, wie Lachse oder Aale. Aber auch für etliche Säuger gibt es klare Hinweise auf einen Magnetsinn. So zeigte eine Studie im Fachblatt «Frontiers of Zoology» 2014, dass sich Hunde bei der Verrichtung ihres Geschäfts bevorzugt in Nord-Süd-Richtung ausrichten. Doch wie genau dieser Magnetsinn funktioniert, ist bis heute zu weiten Teilen ein Rätsel. Vor allem konnten Biologen bis heute nicht die Sinneszellen finden, die dafür verantwortlich sind.
Neue Hinweise auf die Natur des Magnetsinns liefern nun Forscher der University of North Carolina. Im Journal «Nature» beweisen sie erstmals, dass die Unechte Karettschildkröte (Caretta caretta) für die Navigation durch die Weltmeere nicht nur auf einen, sondern auf gleich zwei verschiedene Magnetsinne zurückgreift.
Zum einen benutzt sie einen schon länger bekannten inneren Kompass, wie er auch bei Zugvögeln nachgewiesen ist. Anders als der stets nach Norden zeigende Kompass eines Pfadfinders nutzt dieser die Inklination, also den Winkel, mit dem die Feldlinien des Erdmagnetfelds auf die Erdoberfläche treffen. Während sie an den magnetischen Polen senkrecht stehen, verlaufen sie am Äquator parallel zur Erdoberfläche. Durch die Veränderung der Inklination können die Tiere Nord und Süd bestimmen.
Doch jeder Pfadfinder kennt das Problem: Es hilft wenig, zu wissen, wo Norden ist, wenn man keine Karte hat. Dass die Schildkröten solch eine innere Landkarte auf Basis von kleinen Unregelmässigkeiten im Magnetfeld besitzen, wurde schon länger vermutet. Mit einem eleganten Experiment beweisen die «Nature»-Autoren um Kayla Goforth dies nun zum ersten Mal.
Der Tanz der hungrigen Schildkröte
Dabei half ihnen ein kleiner Tanz, den junge Schildkröten im Labor aufführen, wenn es ans Füttern geht: Sie paddeln wie wild mit ihren Vorderbeinen in Richtung Wasseroberfläche, drehen sich im Kreis und recken ihr geöffnetes Maul aus dem Wasser.
In dem Experiment hielt Goforth die Tiere über Monate hinweg abwechselnd in einem von zwei Becken, in denen die Forscher die magnetischen Muster von zwei konkreten Standorten entlang der nordamerikanischen Küste nachstellten. Die Tiere verbrachten gleich viel Zeit in beiden Becken, wurden aber immer nur in einem davon gefüttert. Mit der Zeit lernten sie, das Futter mit einem bestimmten Magnetmuster zu verbinden und führten ihren Tanz dann auch ohne Futter bereits aus reiner Vorfreude auf.
«Das zeigt, dass sich die Tiere das magnetische Muster eines bestimmten geografischen Standorts einprägen und von den Mustern anderer Orte unterscheiden können – sie besitzen also eine Art magnetische Landkarte», sagt Goforth.
Die Schildkröten haben sogar einen siebten Sinn
Aber mehr noch: Während der Nord-Süd-Kompass der Tiere durch hochfrequente Radiowellen im Labor durcheinandergebracht wird, ist diese innere Landkarte gegen diese Störung unempfindlich. «Das beweist, dass es sich um zwei verschiedene Sinne handeln muss und dass diese nicht auf demselben Rezeptor beruhen», sagt Goforth. Die Tiere besitzen also nicht nur einen sechsten, sondern gleich noch einen siebten Sinn fürs Magnetische.
Pascal Malkemper leitet eine Forschungsgruppe zum Magnetsinn am Max-Planck-Institut für Neurobiologie des Verhaltens in Bonn. Er findet die Ergebnisse der Amerikaner durchaus spektakulär: «So überzeugend wie in dieser Studie ist noch nie gezeigt worden, dass Kompass und Landkarte zwei separate Sinne sind. Am beeindruckendsten finde ich, dass es gelungen ist, Tiere auf spezifische Magnetfeldmuster zu trainieren – das ist schon oft erfolglos versucht worden.»
Die grosse Frage nach dem «Wie»
Doch auch der Beweis, dass Kompass und Landkarte getrennte Sinnesleistungen sind, die offenbar auf unterschiedlichen Mechanismen der Wahrnehmung basieren, löst nicht das grosse Mysterium der Sinnesbiologie: Wie gelingt es Tieren überhaupt, Magnetfelder wahrzunehmen?
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – von den klassischen fünf Sinnen weiss man sehr genau, wie der physikalische Reiz in eine Aktivierung von Nervenzellen und letztlich im Gehirn zu einer Wahrnehmung übersetzt wird. Nicht so für den Magnetsinn: Trotz jahrzehntelanger Suche kennen Forscher bis heute kein Organ, keinen sinnesbiologischen Mechanismus, der dafür verantwortlich ist.
Die Sprache der Zellen
Die Indizien deuten vor allem auf zwei Möglichkeiten. Das sogenannte «Radikalpaar-Modell» vermutet einen Quanteneffekt als Grundlage des Magnetsinns. Demnach könnte der eigentliche Magnetrezeptor ein lichtempfindliches Molekül namens Cryptochrom sein, das beispielsweise in den Augen von Zugvögeln zu finden ist.
Das zuvor durch Licht angeregte Cryptochrom könnte empfindlich auf äussere Magnetfelder reagieren und diese in ein chemisches Signal übersetzen – eine Sprache, die Zellen grundsätzlich verstehen und in Nervenimpulse übertragen können. Doch wie und wo dies im Einzelnen vonstattengehen soll, ist bis anhin nicht geklärt. Trotzdem gilt die Radikalpaar-Hypothese als Favorit für den Kompass-Sinn von Zugvögeln und Meeresschildkröten. Sie ist es, die sich leicht durch Radiowellen stören lässt.
Gemäss einer zweiten Hypothese sollen sich in tierischen Zellen winzige Partikel aus dem Eisenmineral Magnetit wie Kompassnadeln nach dem äusseren Magnetfeld ausrichten. Dieser Mechanismus wäre gegen Radiowellen weitgehend immun und könnte damit Grundlage für die innere Landkarte von Schildkröten oder Vögeln sein. «Allerdings hat man bei Tieren noch nie Magnetit im Kontext einer Sinneszelle gefunden», sagt Pascal Malkemper.
Malkemper beschäftigt sich am Bonner Max-Planck-Institut mit Graumullen, unterirdisch lebenden Nagetieren aus der Steppe Sambias. Ihr Vorteil: Die Tiere, etwa so gross wie Hamster, lassen sich im Labor leicht halten und züchten. Ihr Magnetsinn ist seit über dreissig Jahren bekannt. In der Natur nutzen die sozial in Familiengruppen zusammenlebenden Tiere ihn vermutlich, um sich in ihren kilometerlangen Tunnelsystemen zurechtzufinden. Und sie haben offenbar eine Lieblingshimmelsrichtung: Ihre Schlafnester legen Graumulle bevorzugt im Südosten an.
Des Rätsels Lösung könnte im Gehirn beginnen
Malkemper erforscht die neurobiologischen Grundlagen des Magnetsinns der Mulle. Dieser funktioniert in absoluter Dunkelheit und wird von Radiowellen nicht gestört – er dürfte also nicht dem Radikal-Paar-Prinzip folgen. Wahrscheinlicher sei hier ein Mechanismus über Magnetit-Kristalle.
Doch diese nur wenige Millionstel Millimeter grossen Partikel direkt zu finden, hat Malkemper inzwischen aufgegeben. «Unser Ansatz ist es, uns erst einmal das Verhalten und dann das Gehirn der Graumulle genauer anzuschauen: Wie wird der Sinnesreiz dort verarbeitet? Welche Gehirnregionen sind beteiligt?», sagt Malkemper. «Wenn wir das herausfinden, können wir vielleicht am Ende auch die rätselhaften Magnetrezeptoren aufspüren. Denn diese müssen ja irgendwie mit dem Gehirn verbunden sein.»
Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts wunderte sich Charles Darwin in einem Essay darüber, «wie ein Vogel, der des Nachts seine Wanderung übers Meer antritt, dabei seinen Kurs so trefflich einzuhalten weiss, als ob er einen Kompass mit sich führte.» Wie der Vogel Nord und Süd unterscheide? Darwins Antwort: «Wir wissen es nicht.» Mehr als 150 Jahre später gilt sie noch immer.
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