Der Silberrücken des Stadtrats geht. Filippo Leutenegger will als kantonaler FDP-Präsident freier politisieren können.
Filippo Leutenegger, in einem Jahr wählen die Zürcherinnen und Zürcher den Stadtrat neu. Stehen Sie wieder auf dem Zettel?
Amtsmüde bin ich nicht – im Gegenteil. Auch körperlich fühle ich mich fit. Aber ich habe vor anderthalb Jahren eine spannende Aufgabe übernommen, das Präsidium der kantonalen FDP, das mich fordert und weiter fordern wird. Mir wurde klar, dass ich mich mittelfristig für eines der beiden Ämter entscheiden muss. Im Schul- und Sportdepartement sind wir gut aufgestellt, in der Partei gibt es zu tun. Darum strebe ich keine weitere Legislatur an.
Ist Ihnen der Entscheid leichtgefallen?
Nein, ich habe ein weinendes und ein lachendes Auge. Ich war immer gerne Stadtrat und bin es auch jetzt noch, die Führungsaufgabe liegt mir. Das werde ich vermissen. Worauf ich mich freue, ist, dass ich mehr Zeit für unsere Partei haben werde – und auch etwas mehr Freizeit mit meinen Kindern und meiner Partnerin kann nicht schaden.
Als kantonaler Parteipräsident und Zürcher Stadtrat haben Sie zwei Hüte auf. Wurden die Interessenkonflikte zu gross?
Ich würde nicht von Interessenkonflikten sprechen, sondern von Loyalitätskonflikten. Ich bin als Privatperson und Parteipräsident zum Beispiel ganz entschieden gegen die kantonale Initiative, die ein Vorkaufsrecht für Gemeinden im Wohnungsmarkt fordert. Sie ist ein Frontalangriff auf die Eigentumsrechte. Der Stadtrat hat sich aber für die Initiative ausgesprochen. Das führt dazu, dass ich mich in dieser Frage nur zurückhaltend äussern kann. Ich bin sozusagen mit angezogener Handbremse unterwegs.
Und die lockern Sie nun?
Ja, ohne Stadtratsmandat kann ich als Parteipräsident freier politisieren und muss weniger Rücksicht nehmen.
Wie lange bleiben Sie Parteipräsident?
Sicher bis zu den Nationalratswahlen 2027.
Kürzlich kam aus linken Parteien die Kritik auf, Sie seien im Stadtparlament und in den Kommissionen zu wenig präsent. Haben Sie innerlich nicht schon längst mit dem Stadtratsmandat abgeschlossen?
Es ist schon interessant: Diese Kritik kommt ausgerechnet von jenen Leuten, die mich am liebsten gar nicht sehen würden. Jetzt werfen sie mir vor, ich sei zu wenig um sie herum. Absurder geht es nicht. Ausserdem muss ich doch nicht an Sitzungen dabei sein, wenn gar keine Geschäfte von mir behandelt werden. In einer Regierung sollte man nicht zu viel herumhocken, sondern arbeiten. Sorry, das sind lächerliche Vorwürfe.
Man hat Ihnen das Leben nicht leichtgemacht im Stadtrat. 2018 wurden Sie gegen Ihren Willen vom Verkehr- ins Schuldepartement versetzt. Als Freisinniger haben Sie eine Minderheitsposition im rot-grün dominierten Rat. Hat Sie das demotiviert?
Ich werde oft überstimmt, das ist so. Aber ich leide nicht darunter. Ich muss meine Minderheitsposition aushalten – im Gegenzug müssen die anderen auch mich aushalten (lacht). Das ist das Wesen einer Konkordanzregierung. In einer Demokratie ist es etwas vom Wichtigsten, dass man die Meinungen von anderen anhört, auch wenn sie einem nicht passen, bis zur Schmerzgrenze.
War Ihnen der Wechsel vom ideologisch stark umkämpften Verkehr zur ruhigeren Bildung im Nachhinein sogar recht?
Ich wäre gerne geblieben damals, aber ich habe meine neue Aufgabe mit Freude angenommen. Grundsätzlich interessiert mich jedes Departement.
Sie sind mit 72 Jahren der Älteste im Stadtrat. Inwiefern spielte das bei Ihrem Entscheid eine Rolle?
Das Alter ist nicht der Grund, weshalb ich im Stadtrat aufhöre. Ich werde, ehrlich gesagt, auch selten darauf angesprochen. Das mag daran liegen, dass wenige das Gefühl haben, ich sei müde oder gebrechlich. Alter bedeutet auch Erfahrung. Kürzlich schenkte mir eine Freundin einen Spielzeug-Gorilla. Filippo, der Silberrücken. So bezeichnete ich damals meine Rolle bei der Kandidatur fürs Parteipräsidium. Ich möchte meine Erfahrung vermehrt nutzen, um sie an Jüngere weiterzugeben und Talente zu fördern.
Was halten Sie von Forderungen nach Amtszeitbeschränkungen, wie sie zurzeit lautwerden? Stadtratskollegen von Ihnen werden zum Wahltag schon sechzehn Jahre und mehr regiert haben.
Ich bin kein Freund von solchen Beschränkungen. Ich habe während meiner politischen Karriere genügend Leute kennengelernt, die schon nach kurzer Zeit in den Verwaltungsmodus gewechselt sind. Andere hingegen sind sechzehn und mehr Jahre lang aktiv und wollen gestalten. Das hängt stark von den jeweiligen Persönlichkeiten ab.
Trotzdem, der Rat vereint am nächsten Wahltermin über hundert Amtsjahre, sieben von neun Stadträten sind aus den rot-grünen Parteien. Täte frischer Wind nicht gut?
Das ist Sache der Wählerinnen und Wähler. Auch wenn ich mir persönlich die parteipolitische Zusammensetzung ausgeglichener wünschen würde, funktioniert der Austausch im heutigen Rat gut. Nicht immer spannungsfrei, aber offen und direkt und manchmal entspannt und fröhlich. Das ist positiv und spricht für eine gute Stadtratskultur.
Für die Freisinnigen waren Sie mit Ihrem Bekanntheitsgrad in der Stadt ein Zugpferd, wurden immer gut gewählt. Ist Ihre Partei bereit, die Lücke zu füllen, die Sie hinterlassen? Gerade wenn man bedenkt, dass der zweite Freisinnige im Stadtrat, Michael Baumer, die Wiederwahl beim letzten Mal nur knapp geschafft hat.
Wir müssen um unseren zweiten Sitz kämpfen. Wir haben gute junge Leute in der Partei, und ich werde alles tun, um die Stadtpartei zu unterstützen. Noch wichtiger als der Stadtrat ist aber das Parlament, das immer ideologischer wird und das Geld mit beiden Händen ausgibt. Dort müssen wir bei den nächsten Wahlen zulegen, um der linken Mehrheit Paroli zu bieten.
Sie nehmen sich nun mehr Zeit für das kantonale FDP-Präsidium. Wo wollen Sie Akzente setzen?
Es gibt viele Baustellen. Nehmen wir die Wohnpolitik. Die Linke will immer mehr Umverteilung und Regeln – nach den desaströsen Vorbildern Basel und Genf. Das führt dazu, dass weniger Wohnungen gebaut werden und die Preise steigen. Dem müssen wir als Liberale etwas entgegensetzen. Wir brauchen mehr Wohnraum, und darum darf der Wohnungsbau nicht zusätzlich erschwert, sondern muss erleichtert werden. Zum Beispiel durch den Ausbau von Tausenden von ungenutzten Dachstöcken. Die kantonale Gesetzgebung ist in dieser Frage entscheidend. Im Kanton gibt es andere Mehrheiten als in der Stadt und damit auch Möglichkeiten, etwas zum Positiven zu verändern.
Mit anderen Worten: Nachdem Sie in der Stadt jahrelang nichts zu melden gehabt haben, wollen Sie die kantonale Bühne nun nutzen, um die städtische Politik zu übersteuern?
Nein, das ist nicht das Ziel. Die Stadt bestimmt weiterhin über ihre kommunalen Angelegenheiten, der Kanton über die kantonalen. Das sind unterschiedliche Ebenen, beide sind wichtig. Es geht nicht darum, die Stadt zu bevormunden – allenfalls können wir sie ab und zu vor weiterem Unglück bewahren (lacht).
Keine Stadt der Schweiz hat pro Einwohner derart viele Staatsangestellte wie Zürich. Auch im Kanton wächst der Verwaltungsapparat. Sie haben vergangenes Jahr eine Volksinitiative für eine «Personalbremse» angekündigt. Wo steht die?
Die kantonale Initiative ist schon weit gediehen. Parallel dazu arbeiten wir an einer Initiative für eine Kostenbremse analog zum Bund. Wir müssen etwas gegen den übermässigen Staatsausbau unternehmen. Wenn die Verwaltung über Jahre stärker wächst als die Bevölkerung, läuft etwas schief.
In der Stadt Zürich wächst vor allem ein Departement besonders stark, Ihr Schul- und Sportdepartement. Was haben Sie in den letzten Jahren konkret unternommen, um dieses Wachstum zu bremsen?
Ich habe nie gross neue Stellen gefordert. Das Parlament hat mir in den Budgetdebatten aber mehrfach zusätzliches Geld für Personal aufgezwungen, obwohl ich das explizit nicht wollte. Das habe ich dem Parlament mehrfach vorgehalten. Rot-Grün ist im Zürcher Parlament masslos, ideologisch und nicht empfänglich für Argumente.
Machen Sie es sich da nicht zu einfach? Sie stellen letztlich die Leute ein.
Ich muss die Aufträge des Parlaments umsetzen. Wenn von dort immer mehr teure Wünsche kommen, müssen wir als Exekutive danach handeln.
Die Zürcher Stimmberechtigten tragen diesen kostspieligen Kurs mit. Das sah man zum Beispiel in der Abstimmung zu den Tagesschulen. Sie haben sich an der Urne für die teurere Variante von 126 Millionen Franken pro Jahr ausgesprochen.
Ich habe mich dafür eingesetzt, dass die Eltern mit den Tarifen für das Essen wenigstens den Warenwert der Lebensmittel bezahlen. Es ist anders gekommen. Die Tagesschulen sind nun sehr stark subventioniert. Die pauschal sechs Franken für die Betreuung inklusive Mittagessen pro Kind belasten die Stadtkasse und subventionieren auch gutbetuchte Eltern.
Das geht ins Geld.
Sehen Sie, das Schul- und Sportdepartement hat 2025 ein Budget von über 1,5 Milliarden Franken – 1,2 Milliarden entfallen auf das Schulamt. Insgesamt ist das mehr als ein Drittel aller Steuereinnahmen. Jedes Jahr kommen Dutzende Millionen dazu. Grund dafür sind natürlich die steigenden Schülerzahlen, die Kosten für neue Schulhäuser, aber auch der Ausbau der Tagesschule. Masshalten wäre jetzt gefragt.
Warum wehren Sie sich als Vorsteher denn nicht stärker dagegen?
Im Schulsystem reden unglaublich viele Leute und Behörden mit, und die Ansprüche sind riesig. Mir ist es wichtig, dabei auch an die Schulkinder zu denken und auch ganz einfache Akzente zu setzen. Zum Beispiel, dass sie über Mittag eine ausgewogene Ernährung erhalten, aber zwischendurch auch einmal Fleisch auf den Teller bekommen.
Die Stadt baut mittlerweile Schulhäuser für eine Viertelmilliarde Franken. Warum geht es nicht günstiger?
Für das Bauen von Schulhäusern ist das Hochbaudepartement zuständig.
Aber Sie sind der Besteller.
Ja, die Schulraumplanung liegt im Schulamt, und da haben wir Vorgaben. Natürlich sehe ich auch, dass Privatschulen zum Teil massiv günstiger bauen als die Stadt.
Das Schuldepartement ist jüngst in die Schlagzeilen geraten, weil es einen verurteilten Sexualstraftäter beschäftigte. Wie konnte das passieren?
Der Mann hätte nach seiner Tat in einer fremden Institution nicht weiter an der Schule beschäftigt werden dürfen. Das war ein Fehler, was mir wirklich leidtut. Wir haben den Fall intern aufgeklärt und Massnahmen ergriffen, damit sich etwas so nicht wiederholt. Unter anderem wird ein Krisen- und Interventionskonzept aufgebaut und die Prävention verbessert.
FDP-Vertreter haben eine Initiative eingereicht, in der sie die Einführung von Förderklassen verlangen. Wie gross ist die Belastung von Lehrern und Schülern heute in den Regelklassen?
Eine Klärung vorweg. Die Initiative wurde aus Kreisen von FDP, GLP und SVP lanciert. Unsere Partei hat ihre Haltung dazu noch nicht entschieden. Wir befinden uns aber in einem lebhaften Meinungsbildungsprozess, denn bei uns haben wir viele engagierte Bildungspolitikerinnen und -politiker. Zugespitzt geht es um die Frage, ob die integrative Schule gescheitert ist oder nicht. Die aktuellen Herausforderungen in der Schule sind sehr gross.
Inwiefern?
Wir haben immer weniger Kinder mit deutscher Muttersprache, mehr traumatisierte Flüchtlingskinder und Systemsprenger, unter ihnen 70 Prozent Buben, und immer anspruchsvollere Eltern. Die Kinder leiden auch unter den vielen wechselnden Bezugspersonen, die oft Teilzeit arbeiten. Das macht mir für die Zukunft unserer Kinder Sorgen. Abgesehen von einer politischen Initiative geht es um wirksame Unterstützungsangebote für das Schulpersonal, insbesondere für die belasteten Klassenlehrpersonen. Dabei sind wir auf den Kanton angewiesen.
Könnten Förderklassen helfen? Sie unterstützen die Initiative nur halbherzig, scheint uns.
Wie gesagt, unsere Partei hat sich noch nicht festgelegt. Es gibt jedenfalls keine Patentlösung. Innerhalb der FDP wollen wir zuerst den Meinungsbildungsprozess vorantreiben. Personen, die an den Schulen eine Funktion ausüben, sollen sich austauschen können.
Das Zürcher Schulwesen ist unübersichtlich. Unter Ihnen schalten und walten sieben Schulpräsidenten und Kreisschulbehörden. Nach dem Wirbel um den ehemaligen SP-Schulpräsidenten Roberto Rodriguez, der sich im eigenen Schulkreis zum Schulleiter wählen liess, haben Sie eine Verschlankung des Schulapparats angeregt. Was ist daraus geworden?
Die Zusammenarbeit in der Schulpflege funktioniert gut, selbst wenn die Strukturen anachronistisch sind. Aber was sind die Alternativen? Die politischen Meinungen dazu gehen stark auseinander. Als Nächstes soll sich das Stadtparlament mit der Sache befassen, dem wir einen ausführlichen Bericht haben zukommen lassen.
Diese Reform werden Sie kaum mehr als Stadtrat erleben. Bei Ihrem Rücktritt 2026 werden Sie zwölf Jahre im Amt gewesen sein. Was nehmen Sie aus der Zeit vor allem mit?
Mir ist der direkte Kontakt mit den Menschen immer wichtig. Mit Corona habe ich begonnen, Elternbriefe zu verschicken, um Eltern am Schulgeschehen teilhaben zu lassen. Dazu habe ich sehr viel Feedback erhalten. Ich habe vielen Eltern und auch Mitarbeitenden persönlich geantwortet oder ein Anliegen in den nächsten Briefen aufgenommen. Mich freut es, wenn ich Eltern oder Mitarbeitenden bei einem Problem helfen kann, bei dem sie nicht weiterkommen. Die Nähe zu den Menschen und natürlich zu den Kindern hat mich in all den Jahren bereichert und persönlich berührt.