Die jahrelange Niedrigzinsphase hat die Aufnahme von Schulden begünstigt. Inzwischen leidet ein grosser Teil der Unternehmen an denselben Krankheiten.
Haben die tiefen Zinsen, die seit der Grossen Finanzkrise herrschen, die Unternehmen krank gemacht? Die Frage mag überraschen, da die Aktienkurse nahe dem Höchststand notieren, die Gewinne der Unternehmen und die Margen rekordhoch ausfallen, die Bewertungen (Kurs-Gewinn-Verhältnis, GV) teuer und die Credit Spreads (Zinsaufschläge für Unternehmensfinanzierungen) so tief sind wie nie zuvor.
Und trotzdem fällt dem aufmerksamen Leser der Finanzpresse auf, dass da und dort die Befürchtung geäussert wird, dass die Tiefzinsphase zu einer Zombifizierung der Unternehmen geführt hat und die Bilanzen anfällig sind für eine Rezession oder einer Risk-off-Phase an den Finanzmärkten.
Die Frage ist durchaus berechtigt, haben doch Studien in den USA ergeben, dass der über Jahre zu beobachtende Anstieg der Unternehmensgewinne und Gewinnmargen in den USA in erster Linie den gefallenen Steuerraten und billigeren Refinanzierungen zu verdanken ist und keinesfalls einer verbesserten organischen Ertragskraft. Die Firmen wurden demnach systematisch gedopt, nicht ertüchtigt.
Stimmt das? Haben wir es mit einem interessanten Fall von «hochpotenten Untoten» zu tun?
Bei der Beurteilung der Bonität von Unternehmensschuldnern («Corporate Bonds») legen wir tatsächlich grossen Wert auf die Frage, ob die Unternehmen schleichend an Substanz und Kraft verlieren und langsam krank werden, mit dem Ziel, solche Emittenten auszusondern. Wir sind da relativ gnadenlos, gnadenloser als der Markt, denn schauen Sie sich unsere Korrelation des Monats an: Die Ertragskraft und die Bonität laufen auseinander, selbst wenn man mit dem Verhältnis aus Nettoschuld zum Ebitda ein Bonitätsmass benutzt, das zwar weit verbreitet ist, welches das Risiko aber eher maskiert und beschönigt, statt es ins Zentrum zu stellen:
Wir haben hundert grosse amerikanische Unternehmen mit einer Bonität von AAA bis BB- (Durchschnitt BBB) zu einem Sample zusammengefasst und untersucht, ob wir systematisch Krankheitssymptome in der Unternehmenslandschaft finden oder nicht.
Und siehe da: Tatsächlich ist im Median über die Jahre der höhere Gewinn mit einer höheren Risikopositionierung einhergegangen. Die Korrelation ist negativ, schade, denn eigentlich sollten doch steigende Gewinne mit verbesserten Bilanzen einhergehen. Die Firmen hätten doch den Spielraum, Gewinne einzubehalten und die Bilanz zu stärken?
Der Markt kapriziert sich bei der Analyse des Risikos auf die Kennzahl «Leverage» (Net Debt/Ebitda). Wir mögen sie nicht: Sie ist die Drag Queen unter den Finanzkennzahlen, schön kostümiert und geschminkt, aber unter der Verpackung verbleibt das, was nicht da sein sollte. Wir haben die Unzulänglichkeiten von Net Debt/Ebitda verschiedentlich in unseren Beiträgen (hier oder hier) erläutert. Es gibt Sinnvolleres.
Wir wissen nicht, woran Zombies leiden, wir können nur mutmassen.
Wir empfehlen bei der Untersuchung, ob die Unternehmen zombifizieren, etwas genauer hinzuschauen und mit spezifischen Instrumenten drei Krankheitsbilder abzuklären. Wir haben zu diesem Zweck gleich noch ein vergleichbares Sample für europäische (inkl. Schweizer) Unternehmen angefertigt, um abzuklären, ob allfällige Pathogenesen auf die USA beschränkt sind oder nicht. Die Stichprobengrösse ist umfangreich genug, um als repräsentativ angesehen zu werden:
- Burnout: Wenn der Körper langfristig mehr Energie verbraucht, als er regenerieren kann, führt dies zu einer totalen Erschöpfung. In der Welt der Unternehmen bedeutet dies eine verminderte Fähigkeit, genügend Ertrag zu generieren, um den Schuldendienst zu bewältigen, ausgedrückt in einer unbefriedigenden Interest Coverage Ratio (ICR), die sich aus der Division des Ebitda oder des Ebit durch die Schuldzinszahlungen errechnet. Die Resultate sind interessant: Von den hundert Unternehmen verfügen 25 über einen negativen Trend im ICR, 65 über einen erratischen oder trendlosen Verlauf und nur fünfzehn Unternehmen haben sich im Zeitverlauf verbessert. Das stimmt uns nachdenklich, zumal die lange währende Niedrigzinsphase den Unternehmen die Chance eröffnet hat, sich langfristig zu ultratiefen Zinsen zu refinanzieren. Eine breit steigende Coverage Ratio wäre also zu erwarten. Davon kann aber keine Rede sein. Wir reden nicht von einer allumfassenden Katastrophe, sondern von einer Malaise, die einen gewissen Teil der Firmen befallen hat. In Europa ist die Krankheit übrigens noch weiter fortgeschritten: Deutlich mehr als ein Drittel der Unternehmen zeigt einen negativen Trend in dieser Burnout-Metrik.
- Diabetes: Wer Zucker hat, ist weniger effizient darin, Glukose aus dem Blut in Energie umzuwandeln, der Zucker bleibt im Blut, ähnlich wie ungenutzte Aktiva in einem Unternehmen, die nicht mehr zum Umsatz beitragen. Das Instrument in der Bilanzanalyse ist hier der Koeffizient aus Umsatz zum Vermögen, er zeigt die Agilität der Firmen, Ressourcen in Aktivität umzusetzen. Im Falle der USA leiden nicht weniger als 42% der Unternehmen unter einer fallenden Aktivität. 38 sind erratisch oder stabil, wiederum nur zwanzig sind positiv. Etwas anders sieht es in Europa aus, mit weniger negativen (25), aber auch deutlich weniger positiven (5) Trends. Der Mediantrend in den Samples ist negativ, aber der Durchschnitt ist nicht repräsentativ für das Sample, es gibt beträchtliche Unterschiede innerhalb der Gruppen.
- Osteoporose: Eine Erkrankung, bei der der Körper über die Zeit mehr Substanz verliert, als er aufbauen kann, eine chronische oder degenerative Krankheit, und hier müssen wir kreativ sein: Wir vergleichen die Kapitalrendite (ROIC, Rendite auf das investierte Kapital) mit den gewichteten Kapitalkosten (WACC), und summieren die Jahresdifferenzen über die Zeit: «ROIC–WACC kumuliert». Geht der Trend aufwärts, erarbeitet das Unternehmen stetig Mehrwert, verflacht der Trend oder fällt er sogar, dann lebt es von der Substanz, es leidet also unter Knochenschwund. Hier sieht es vordergründig etwas besser aus: 60% der US-Unternehmen verfügen über einen gesunden Trend, zwölf noch über einen knapp genügenden und 22 kränkeln klar. Allerdings: Gemessen an den rollenden Fünfjahrestrends hat sich die Lage in letzter Zeit wesentlich verschlechtert. In Europa sieht es mit 31 Patienten noch bedenklicher aus. Sie sagen sich vielleicht, dass Osteoporose weniger schlimm ist als Diabetes und Burnout. Fragen Sie meine Mutter, kann ich dazu nur sagen.
Soweit die Anamnese, kommen wir zur Diagnose: Sind «Corporate America» und «Corporate Europe» todkrank? Nein. Und trotzdem haben sich die tiefen Zinsen als hoch potenter Virus erwiesen:
- Die über lange Zeit deutlich zu tiefen, ja negativen Zinsen haben die Unternehmen zur Aufnahme von viel zu viel Schulden ermutigt (Adipositas), und zwar in einem Ausmass, dass dem Betrachter die Luft weg bleibt.
- Die zweite virale Infektion besteht in der Übernahmeschlacht, die durch die zu tiefen Zinsen befeuert wurde. Sie entbehrte oft der kommerziellen Logik und hat die Bilanzen auf breiter Front zerrüttet, indem fiktives Eigenkapital in Form von Akquisitionsgoodwill (viszerales Fett) aufgebaut wurde. Das tangible, harte Eigenkapital ist in vielen Fällen mittlerweile negativ.
- Zu viel Schulden/Adipositas, entzündungsförderndes viszerales Fett und Diabetes, verbunden mit Knochenschwund und Osteoporose bildet ein Bild eines metabolischen Syndroms, von dem Teile der Wirtschaft erfasst worden sind. Es ist Grund zur Sorge, wenn rund ein Drittel aller Firmen bei mindestens einer der drei obgenannten Untersuchungen durchfällt. Zumal wir es hier mit soliden Bonitätsratings zu tun haben. Wie sieht es dann in tieferen Bonitäts-Gefilden und da speziell im undurchsichtigen Private-Debt-Bereich aus?
Endziel: Nirwana des Vergessens?
Die Angst vor Demenz hat wohl sogar noch diejenige vor Krebs überholt. Bei Betrachtung der Ergebnisse der Samples habe ich den Eindruck gewonnen, dass es einige Fälle zu betrachten gibt, die kurz vor dem Ausbruch des Morbus Alzheimer stehen. Neuere Untersuchungen sollen besagen, dass die Demenz auch Diabetes III genannt werden kann, da sie wie das metabolische Syndrom mit chronischer Entzündung zusammenhängt. Heisst das übersetzt, dass zu viel Schulden, Löcher im Eigenkapital, ein Abgleiten der Aktivität und das Unvermögen, sinnvolle Renditen zu erwirtschaften, sich zu einem systemischen Leiden verdichtet haben, das grosse Teile der kotierten Firmen erfasst hat? Bei der Niederschrift dieser Zeilen lese ich, dass 589 der Russell-3000-Unternehmen über einen Interest Cover von weniger als 1 verfügen. Darunter finden sich bekannte Namen wie Intel, WarnerBros und Boeing. Das passt ins Bild.
Wie tödlich ist das Virus? Die letzte globale Rezession ist lange her. Eine nächste Rezession wird über die Virulenz des Erregers «zu tiefe Zinsen» Klarheit geben: Ist es ein relativ mildes Influenza-Virus? Oder aber ist es ein tödliches Marburg-Virus?
Was tun?
Seien Sie ein Abraham Van Helsing! Bekämpfen Sie die Blutsauger und Untoten in Ihren Portfolios. Untersuchen Sie Ihre Anlagen und sortieren Sie gnadenlos aus. Die drei Kennzahlen oben sind in vielen Fällen Vorläufer der Emittenten-Ratings. Erfreuen Sie sich bei den verbliebenen Emittenten an steigenden Gewinnen und verbesserter Resilienz für den Fall einer Rezession, die einem Jüngsten Gericht gleich die Spreu vom Weizen, die Aussätzigen von den Gesunden trennen wird (ich helfe Ihnen gerne).
P.S. Vielleicht besser, dass ich nicht Medizin studiert habe. Hier noch eine Anekdote zum europäischen Sample. Ich habe ein drittes Sample gebaut mit den 35 grössten europäischen Emittenten, die insofern halbverstaatlicht sind, als der Staat wichtige Aktienpakete und Einsitz in die Boards besitzt. Die Überschneidung zwischen dem ursprünglichen europäischen und diesem parastaatlichen Sample war aber dermassen gross, dass sich der Mehrwert erübrigt hat. Vielleicht krankt Europa ja nicht nur an zu tiefen Zinsen?
Jürg Lutz
Jürg Lutz ist Anleihenspezialist beim Schweizer Vermögensverwalter PK Assets, der auf die Anlage von Pensionskassengeldern spezialisiert ist. Er bezeichnet sich selbst als alten Hasen im Bondmarkt, was angesichts seiner dreissigjährigen Erfahrung in der Verwaltung von Anleihenportfolios nicht ganz abwegig ist. Vor geraumer Zeit hat er – gemäss eigenen Worten – nach einem dreijährigen Martyrium den CFA-Charterholder erworben. Der Bündner ist verheiratet und Vater von zwei Kindern. Er ist beseelt von der Vorstellung, bis zu seinem Ableben die Via Spluga, die entlang des alten Säumerpfades von Thusis ins italienische Chiavenna führt, mindestens hundert Mal zu wandern. Viel fehlt ihm bis zu diesem Ziel nicht mehr.