An einem heissen Sommerabend im Juli 2023 hielt Joseph Vogl, der Bayer in Berlin, seine letzte Vorlesung an der Humboldt-Universität. Es war ein Abschied, der ein definitives Ende markierte und zugleich einen unbestimmten Anfang. Für den Übergang vom Alten zum Neuen fand der Literaturwissenschafter eine Metapher bei Franz Kafka, über den er 1990 an der Universität München promoviert hatte: «An diesem Orte war ich noch niemals; anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern.»
Joseph Vogl tastet sich in seiner Abschiedsvorlesung an etwas heran, das sich bloss vage andeutet und nicht kategorisieren lässt. Und das sich, bevor es Wirklichkeit wird, zuerst als Möglichkeit zeigt. Um diesem flirrenden Zwischenbereich, einem Schweben, das einem bewegten Ruhen gleicht und weder steigt noch fällt, auch formal gerecht zu werden, wählte Vogl das literarische Genre des Essays. Unter dem Titel «Meteor. Versuch über das Schwebende» liegt dieser nun als erweiterte Buchfassung vor.
An der Schwelle des Sichtbaren
Der Autor streift durch die Literaturgeschichte und hält Ausschau nach dem, was Johann Wolfgang von Goethe in seiner Witterungslehre als «Formung des Formlosen» bezeichnet: Wie kann man Nebel und Wolken, Dunst und Staub, die weniger einen Zustand als ein Werden darstellen, mitsamt ihren vielfältigen Bewegungen auf den Begriff bringen? Goethe sieht die «Luftgetümmelwesen» als Wahrnehmungsereignisse an der Schwelle zur Dingwelt. Im Trüben geschehe eine «erste leiseste Raumerfülllung, gleichsam der erste Ansatz zu einem Körperlichen». Dabei handle es sich um Naturereignisse, die auf Kräfte verwiesen, die weder spürbar noch sichtbar seien.
Diesem existenziellen Übergangsbereich und seinen Darstellungen in Literatur und Philosophie widmet sich der «Versuch über das Schwebende». Es ist ein ambitioniertes Unternehmen, das jenseits der Grenze diskursiven Geschehens Unbestimmtes ins Sagbare zu holen versucht. Es geht um die uralte transzendentale Frage nach dem, was sich hinter den Gegebenheiten und Erscheinungen der Sinneswelt verbirgt.
Joseph Vogl entdeckt das Schwebende nicht etwa in der leichten oder gar seichten Literatur, sondern in einer Literatur, die das Schwere der Leichtigkeit zuführt – ganz im Sinne von Italo Calvino, der zwei gegensätzliche Tendenzen des Dichtens und Denkens ausmacht: «Die eine sucht aus der Sprache ein gewichtloses Element zu machen, das über den Dingen schwebt wie eine Wolke oder besser gesagt wie ein feiner Staub oder noch besser wie ein Feld von Magnetimpulsen; die andere ist darauf aus, der Sprache das Gewicht und die Konkretheit der Dinge zu geben, die Konsistenz der Körper und der Empfindungen.»
Ein weiterer Angelpunkt in der Argumentation stellt «Der Mann ohne Eigenschaften» von Robert Musil dar. Das Romanprojekt, so Vogl, gruppiert sich um ein Spektrum von Erscheinungen, «das von der Schwere der Tatsachen zum Hauch der Möglichkeiten, von versteinerten Weltlagen zu einem Dunst aus Ahnungen und Ideen, von der festen Materie der Gegebenheiten zu einem feineren Gespinst aus Einbildung, Träumerei und Konjunktiven reicht». Die Welt wird von den Rändern her beschrieben als ein Prozess, der keine festen Formen und klaren Bilder kennt. Diese Unschärferelation der literarischen Beschreibungen sieht Joseph Vogl auch bei Novalis oder Kafka, dessen Werk das in der Schwebe hält, was andernorts festgefügt ist.
Wie bestimmt man Unbestimmtes?
Für Joseph Vogl, den Grenzgänger zwischen Literatur, Philosophie und Ökonomie, sind die Überlegungen zur Poesie auch für das Wissen relevant. Da schwebende und flüchtige Erscheinungen den begrifflichen Festlegungen den Boden unter den Füssen entziehen, stellen sie eine Herausforderung für das Denken dar: Die herkömmlichen Kategorien werden fragwürdig angesichts von Naturereignissen, die am Himmel genauso schnell entstehen wie entschwinden.
Kann es sein, dass die Aufklarung am Himmel nicht notwendigerweise zur Aufklärung führt? Dass mit dem Abzug der Wolken auch Teile des Fühlens, aber auch des Denkens abziehen? Die Ästhetik des Schwerelosen bei Gemälden von William Turner etwa besteht ja gerade in der von Nebel getrübten Sicht. Ohne einem neoromantischen oder antiaufklärerischen Weltbild das Wort zu reden, stellt der Rationalist Joseph Vogl solche Fragen, um auf die Kraft der vorgegenständlichen, «schwebenden Einbildungskraft» hinzuweisen, wie sie bereits der Philosoph Johann Gottlieb Fichte gegen die diskursive Vernunft in Stellung brachte.
Joseph Vogl geht es nicht um ein Entweder-oder, sondern um eine Umordnung der Dinge und Verdichtung des Möglichen im Wirklichen. Im Gewicht- und Schwerelosen erkennt er ein «Gefühl von Dasein, in dem das Trennende schwindet, ein Nicht-Gemeinsames nicht existiert und sich eine Entgrenzung vollzieht». Die Abwesenheit von Bestimmungen ermögliche die Anwesenheit von etwas anderem: einer Empfindung oder Selbstwahrnehmung der individuellen Existenz, die sich in einer empathischen Daseinsbejahung manifestiert.
«Meteor» ist ein genauso gewagter wie faszinierender Versuch, die Grenzen bestehender Terminologien und humanwissenschaftlicher Begriffsbildungen kritisch auszuloten. Sind sie überhaupt in der Lage, so etwas Leichtes wie Dunst oder Wolken, die sich stets verändern und in anderen Formationen auftreten, in ihrer Eigenheit zu erfassen? Wer sich von der Beweis- und Bedeutungslast des einseitig zuordnenden Denkens befreit, entwickelt womöglich ein Sensorium für das, was schon da ist, sich aber noch nicht zu erkennen gibt – für Naturphänomene, die auch dann wirksam sind, wenn sie nicht in Erscheinung treten.
Joseph Vogl: Meteor. Versuch über das Schwebende. Beck-Verlag, München 2025. 144 S., Fr. 29.90.