Wem nützt eine israelische Übernahme des palästinensischen Gebiets – und was würde eine Annexion für ein mögliches Abkommen Israels mit Saudiarabien bedeuten? Eine Reise von den Hügeln des Westjordanlands bis in die Hinterzimmer der Macht in Jerusalem.
Neben dem radikalen Entvölkerungsvorschlag, den Donald Trump Anfang Februar für den Gazastreifen enthüllt hat, waren seine Aussagen zum Westjordanland nur eine Randnotiz. Dennoch liessen sie aufhorchen. Auf eine mögliche Annexion des palästinensischen Gebiets angesprochen, entgegnete er, Israel sei ein Land mit einem sehr kleinen Territorium.
Dann zückte Trump einen Filzstift: «Sehen Sie diesen wundervollen Stift?», fragte der amerikanische Präsident, bevor er sich dem Schreibtisch im Oval Office zuwandte. «Mein Tisch ist der Nahe Osten. Und die Spitze dieses Stifts ist Israel. Das ist nicht gut, oder?» Innerhalb von vier Wochen werde er die Position seiner Regierung zu einer möglichen israelischen Annexion des Westjordanlands bekanntgeben, sagte der US-Präsident an jenem 4. Februar.
Die Stift-Tisch-Analogie Trumps suggeriert, dass er nichts dagegen hätte, wenn Israel sein Territorium vergrössern würde. Die Siedlerbewegung in Israel setzt denn auch grosse Hoffnungen in Trump: Das Westjordanland, oder zumindest Teile davon, will sie offiziell zu israelischem Staatsgebiet erklären.
Rund eine halbe Million israelische Siedler leben in dem Gebiet, das Israel seit seinem Sieg im Sechstagekrieg 1967 militärisch besetzt hält. Völkerrechtlich sind alle Siedlungen illegal, doch Israel anerkennt einige davon. Nationalreligiöse Israeli träumen schon lange von der Annexion des Westjordanlands, wo sich viele der wichtigsten heiligen Stätten des Judentums befinden. Den letzten Schritt zur Einverleibung hat der jüdische Staat allerdings noch nicht gewagt: Offiziell sind die Siedlungen kein Teil Israels.
Der Gouverneur, der die Annexion will
Israel Ganz ist ein vielbeschäftigter Mann. Der 46-Jährige mit Kippa und gräulichem Vollbart ist seit 2018 der Gouverneur von Binyamin, Israels grösster Regionalverwaltung. Nur: Binyamin liegt nicht in Israel, sondern in «Judäa und Samaria», wie Ganz das Westjordanland nennt. Der Politiker ist für 47 Siedlungen nördlich von Jerusalem zuständig und verwaltet das Leben von über 80 000 Israeli, die dort wohnen.
Anfang November 2024, wenige Tage nach Donald Trumps Wahlsieg, empfängt Ganz internationale Journalisten in den Räumlichkeiten der Regionalverwaltung in Psagot. Wer durch den kleinen Ort fährt, hat nicht das Gefühl, ausserhalb von Israel zu sein. Am Eingang der Siedlung befindet sich ein Einkaufszentrum, im Ort stehen ein Laden für Vintage-Kleider, ein Gartencenter und die Filiale einer israelischen Fast-Food-Kette. Nur der militärische Checkpoint am Eingang und eine Moschee mit mattgelber Kuppel im benachbarten palästinensischen Dorf Mukhamas erinnern daran, dass sich Psagot im besetzten Westjordanland befindet.
Ganz will das ändern: Seine Siedlungen sollen ein offizieller Teil Israels werden. Der Gouverneur spricht allerdings nicht von «Annexion», sondern von «Anwendung der Souveränität». «Dafür habe ich mich eingesetzt, seit ich zum Gouverneur gewählt wurde», sagt Ganz. Für ihn sei die Annexion der Siedlungen nördlich von Jerusalem keine ideologische Angelegenheit, behauptet Ganz. «Mir geht es um Lösungen für Probleme des täglichen Lebens.»
Ganz nennt ein Beispiel: Die palästinensische Bevölkerung verbrenne Müll im sogenannten B-Gebiet des Westjordanlands. Dort ist zwar Israel für die Sicherheit zuständig, die zivile Administration übernimmt jedoch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA). «Der Rauch riecht schrecklich, wir können kaum atmen», erzählt Ganz. Doch er könne nichts dagegen tun – die Müllverbrennung finde in einem Gebiet statt, wo die israelische Regierung keine Zuständigkeit habe.
Wahlrecht für Palästinenser im annektierten Westjordanland?
Die Oslo-Vereinbarungen, mit denen das Westjordanland in A-, B- und C-Gebiete aufgeteilt wurde, hält Ganz für die «schlechteste aller Lösungen». «Keiner weiss, wer die Verantwortung für Abwasser, Abfallentsorgung, Strassen und andere Dinge hat, die alle hier betreffen.» In den A-Gebieten liegen die grossen palästinensischen Städte, wo die PA sowohl für die Sicherheit als auch für die zivile Verwaltung zuständig ist. Die C-Gebiete, die über 60 Prozent des Westjordanlands ausmachen, kontrolliert Israel vollständig. Das Osloer Abkommen sah vor, dass Israel die C-Gebiete dereinst schrittweise an die PA übergeben sollte. Das ist nie passiert.
«Souveränität bedeutet für mich klare Verantwortung», sagt Israel Ganz. «Und deswegen ist Souveränität die einzige Lösung, wie wir in Judäa und Samaria alle ein gutes Leben führen können.» Er schliesst damit auch die Palästinenser ein, die rund 85 Prozent der Bevölkerung im Westjordanland ausmachen. Er wolle zwar nicht über das Leben der «Araber» bestimmen, sagt Ganz. Doch er gehe davon aus, dass sich auch ihr Leben verbessern würde, wenn israelische Gesetze im gesamten Westjordanland gälten.
Inwieweit die Palästinenser über ihr Leben mitbestimmen dürften, müsse noch geklärt werden. Sollte nur das von Israel kontrollierte C-Gebiet annektiert werden, sei die Sache klar, sagt Ganz: «Dann wird es hier gleiche Rechte für alle geben, auch das Wahlrecht.» Für die demografische Balance sei das kein Problem. Im C-Gebiet leben rund eine halbe Million Israeli und 200 000 Palästinenser – die jüdische Mehrheit wäre gesichert.
Sollten allerdings auch die A- und B-Gebiete annektiert werden, sähe es anders aus, meint Ganz. Die Palästinenser dort würden beispielsweise auf lokaler Ebene wählen können, nicht aber auf staatlicher. Ein demokratiepolitisches Problem will Ganz nicht erkennen: «Puerto Rico ist auch ein amerikanisches Territorium, aber die Menschen dort haben kein Wahlrecht.»
Europäische Diplomaten in Jerusalem und Tel Aviv fürchten bereits ein solches Szenario. Hinter vorgehaltener Hand nehmen sie sogar das Wort «Apartheid» in den Mund – eine langfristige, völkerrechtswidrige Ungleichbehandlung von Angehörigen unterschiedlicher ethnischer oder religiöser Gruppen auf demselben Territorium. Donald Trump, der nicht unbedingt als glühender Verfechter des Völkerrechts gilt, dürfte das weniger stören. Davon geht auch Israel Ganz aus: «Mit der Trump-Regierung werden wir eine Veränderung sehen», sagt er. «Denn diese Administration wird zuerst Israel fragen, was es will.»
Amerikanische Absage an den Palästinenserstaat
Wie sich der amerikanische Präsident im Hinblick auf eine Annexion verhalten wird, ist noch unklar. Einen Hinweis darauf kann allerdings Victoria Coates geben. Sie war in Trumps erster Amtszeit stellvertretende Leiterin des amerikanischen Rats für nationale Sicherheit, davor Direktorin der Abteilung für den Nahen Osten und Nordafrika.
Im Dezember besucht Coates eine rechte israelische Denkfabrik in Jerusalem. In ihrer heute prophetisch anmutenden Rede kündigt die ehemalige Nahostberaterin Trumps eine fundamentale Abkehr von den Grundfesten ab, die die amerikanische Nahostpolitik in der Vergangenheit geleitet hatten. «Den Palästinensern wurde seit Jahrzehnten ein eigener Staat versprochen», sagt Coates. «Das ist bis heute ihre einzige Motivation, für die sie leiden und sterben. Es wäre gut, wenn die Welt den Palästinensern endlich sagte: ‹Sorry, aber ihr habt verloren, und jetzt müssen wir schauen, wie es weitergeht.›»
Ein palästinensischer Staat in den Grenzen von 1967 sei ein «non-starter» für Verhandlungen, fügt Coates hinzu – frei übersetzt: kommt nicht infrage. Mike Huckabee geht sogar noch weiter. Der kürzlich ernannte amerikanische Botschafter in Israel und bekennende Evangelikale behauptet, Israel habe ein biblisches Anrecht auf das Westjordanland.
Welche Rolle spielt Saudiarabien?
Bis heute ist ein palästinensischer Staat eine Kernforderung vieler arabischer Staaten und eine Bedingung Saudiarabiens für eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel. Die saudische Position bezüglich eines palästinensischen Staats hat sich laut dem israelischen Aussenpolitikexperten Nimrod Goren nach dem Ausbruch des Gaza-Kriegs sogar noch verhärtet. «Ich glaube deshalb nicht, dass eine Annexion des Westjordanlands bevorsteht», sagt Goren, Leiter der Mitvim-Denkfabrik und Vorstandsmitglied der Organisation Diplomeds.
Schon einmal lag die Annexion des Westjordanlands auf dem Tisch: 2020 hatte Netanyahu einen entsprechenden Plan offiziell angekündigt. Doch dann schloss Israel kurz darauf die sogenannten Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain ab – und verzichtete auf die Annexion. Die Emirate rechtfertigten ihre Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel damit, die israelische Landnahme verhindert zu haben. Auch jetzt könnte die mögliche Einverleibung des Westjordanlands vor allem eine Verhandlungstaktik sein.
«Israel festigt seine Kontrolle über das Westjordanland ohnehin schon täglich, ohne es an die grosse Glocke zu hängen», sagt Nimrod Goren. «Wegen der regionalen und internationalen Ablehnung hat Netanyahu nicht viel zu gewinnen, wenn er das Westjordanland annektiert.»
Eine Annexion ist allerdings für die rechtsextremen Mitglieder in Netanyahus Regierung wichtig – aus ideologischen und religiösen Gründen. Vor allem der Finanzminister Bezalel Smotrich pocht auf einen solchen Schritt.
«Netanyahu denkt zuerst an sein eigenes politisches Überleben», ist sich Goren sicher. «Wenn er eine Alternative zu Smotrich findet, dann wird er die Saudi-Normalisierung vorantreiben und von der Annexion ablassen. Aber seine Macht wird Netanyahu dafür nicht aufs Spiel setzen.»
In dieser Logik wird Israels Ministerpräsident bald vor einer Wahl stehen: zwischen diplomatischen Beziehungen zum wichtigsten arabischen Staat und einer völkerrechtswidrigen Vergrösserung israelischen Staatsgebiets. Von Netanyahus Entscheidung hängt die Zukunft seiner Regierungskoalition ab – und die des gesamten Nahen Ostens.