Wenn gesund zu essen krankhaft wird, sprechen Experten von Orthorexie. Eine Betroffene erzählt, wie sie es aus der Zwangsstörung herausgeschafft hat.
Der Gang durch den Supermarkt war für Madeleine Dähling, 33, eine Tortur. Sie prüfte jedes einzelne Lebensmittel auf seine Nährwerte und Inhaltsstoffe. Was sagen Stiftung Warentest oder Öko-Test zu dieser Hafermilch? Welcher Aufstrich enthält Palmöl? Welcher Essig hat am wenigsten Zucker und Kohlenhydrate? «Ich habe irgendwann nur noch eine einzige Sorte Nüsse gekauft, weil ich mir sicher war, dass da keine Pestizide drin sind», erinnert sich Dähling. Sie hat lange, dunkelblonde Haare, ihre grünen Augen blicken nachdenklich, während sie erzählt.
Madeleine Dähling brauchte sehr viel Zeit, um sich gesund zu ernähren. Ein Lebensmitteleinkauf dauerte oft mehrere Stunden. Infrage kamen fast nur Bioläden. «Ich habe extrem viel Geld ausgegeben. Alles musste ‹clean› sein», sagt Dähling. «Wenn zum Beispiel ein Müsli ein Gramm Zucker hatte und das andere null, dann habe ich letzteres genommen – selbst wenn es fünf Euro teurer war.»
Ihr zwanghaftes Essverhalten schränkte Madeleine Dählings Alltag zunehmend ein, ja es bestimmte ihn. Mit Freunden ging sie kaum noch essen. «Und wenn doch, habe ich schon Tage vorher die Speisekarte studiert und geplant, was ich bestellen würde», erinnert sie sich. Was, wenn sie dennoch etwas «Falsches» ass? «Dann hatte ich ein schlechtes Gewissen und überlegte, wie ich das wieder ausgleichen kann», sagt Dähling. «Zum Beispiel, indem ich sehr viel Sport gemacht habe.»
Das ist jetzt fünf Jahre her. Ihr Verhalten empfand sie damals nicht als problematisch, im Gegenteil. «Ich dachte, mir macht ein gesunder Lebensstil eben Spass, und ich gehe darin auf.» Heute weiss sie: Sie litt damals an Orthorexie – dem Zwang, sich gesund zu ernähren.
Treffen mit Freunden kaum noch möglich
Ernährung spielt im Leben von Madeleine Dähling schon früh eine grosse Rolle. Sie wächst in einem Dorf am Rande von Hamburg auf; mit etwa 15 Jahren beginnt sie, Kalorien zu zählen. «Ich habe das bei zwei Mädchen in meiner Klasse gesehen und bin auf den Zug aufgesprungen.»
Für Dähling beginnt eine Abwärtsspirale. Sie rechnet nicht nur aus, wie viel sie isst, in der Folge nimmt sie auch immer weniger zu sich. «Ich habe kaum oder gar nicht mehr gefrühstückt. Gleichzeitig habe ich sehr viel Sport gemacht», sagt sie. «Ich wollte unbedingt dünn sein.» Madeleine Dähling nimmt immer weiter ab. Als sie 18 Jahre alt ist, zieht sie erstmals die Notbremse. «Ich habe gemerkt, dass das nicht mehr gesund ist», sagt sie.
Dähling entscheidet sich, nicht mehr so wenig wie möglich, sondern möglichst gesund zu essen. Die Informationen dafür sucht sie sich aus Büchern, Magazinen und dem Internet zusammen. Nun baut sie sich ein striktes Regelkonstrukt auf, wobei sich die Regeln immer wieder ändern: Mal probiert sie die Ernährungsform Paleo, also die Steinzeitdiät, die sich hauptsächlich aus Fleisch, Gemüse, Obst, Fisch, Eiern und Nüssen zusammensetzt; dann versucht sie sich im Intervallfasten, eine Fastenform, in der Nahrungsaufnahme nur innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens erlaubt ist, und zwischendurch landet sie bei Saftkuren, für die sie tagelang nichts anderes als selbstgepresste Säfte konsumiert.
Dähling merkt damals nicht, dass ihr Verhalten längst die Grenze des Gesunden überschritten hat.
Essen wie eine Kranke, um gesund zu bleiben
Die Ernährung durchdringt bald jeden Bereich im Leben von Madeleine Dähling, auch ihre Berufswahl. Sie studiert Ökotrophologie, also die Lehre der Haushalts- und Ernährungswissenschaften. In ihrem Studium setzt sie sich auch mit Krankheiten auseinander. «Dadurch ist mir noch mehr bewusst geworden, wie wichtig gesunde Ernährung ist», sagt Dähling. «Ich habe zum Beispiel gelernt, dass jemand mit Diabetes oder Krebs bestimmte Lebensmittel meiden sollte, andere hingegen priorisieren sollte.»
Madeleine Dähling beschäftigt sich eifrig mit dem Thema. Das ist kein Zufall: Dähling verlor ihren Vater, als sie 13 war. Er litt an einer Herzerkrankung. «Ich dachte mir, wenn ich mich nun sehr gesund ernähre und auch meine Mutter davon überzeuge, dann würden wir davor bewahrt bleiben», sagt sie. Je mehr Dähling weiss, desto strenger wird sie mir ihrem Essen. «Ich habe mich ernährt, als hätte ich eine Erkrankung – damit ich gar nicht erst krank werde.»
Unbeschwert ist Dähling viele Jahre nicht. Selbst auf Reisen hält sie an ihren strengen Regeln fest. «Wenn ich an einen neuen Ort reiste, habe ich mich vorher damit beschäftigt, welche Läden es in der Nähe gibt», erzählt sie. «Ich habe mir tagelang den Kopf darüber zerbrochen, wie ich dort meine gesunde Ernährung weiter durchziehen kann.» Auf Flugreisen und langen Fahrten mit Auto oder Zug schleppt Madeleine Dähling Tupperware mit vorbereiteten Gerichten mit sowie eine Packung Hirse, Proteinpulver und Nahrungsergänzungsmittel. «Bei mir reiste immer die Angst mit, an neuen Orten nichts zu finden, was ich essen kann.»
Ihr Körper sendete der jungen Frau längst Alarmsignale. «Ich hatte zu dieser Zeit nur etwa zwei Mal im Jahr meine Regelblutung», erinnert sich Dähling. Dennoch: Untergewichtig war sie nie, weshalb sie ihr Frauenarzt nicht auf ihr Sport- oder Essverhalten ansprach.
Expertin: «Unsere gesamte Gesellschaft hat eine ernsthafte Essstörung»
Ein so strenges Regelwerk wie Madeleine Dähling verfolgen bloss wenige Menschen. Laut Schätzungen betrifft Orthorexie etwa ein bis zwei Prozent der westlichen Bevölkerung. Doch oftmals ist der Grat zwischen einer möglichst ausgewogenen Ernährung und einer Essstörung schmal.
Wann also wird der Drang, gesund zu essen, ungesund?
Dagmar Pauli, Chefärztin an der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sieht das Problem bereits dort, wo Menschen Lebensmittel strikt in «gesund» und «ungesund» unterteilen. «Ich halte es für kritisch, wenn man sich ständig Gedanken übers Essen macht, alles abwägt, Kalorien zählt und alles perfekt machen will», sagt die Expertin. «Eine gesunde Einstellung zur Ernährung haben jene Menschen, die unterschiedliche Dinge essen und das Essen geniessen können.»
Pauli beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Essstörungen. In ihrem Buch «Size Zero: Essstörungen verstehen, erkennen und behandeln» stellt sie die provokante These auf: «Unsere gesamte Gesellschaft hat eine ernsthafte Essstörung». Was sie damit meint? «Wenn man sich die weibliche Bevölkerung ansieht, denken etwa 30 Prozent übermässig viel über ihren Körper und ihre Ernährung nach», sagt die Chefärztin. «Diese Frauen leiden zwar nicht alle an Orthorexie, aber die Übergänge sind fliessend.»
Die Entstehung einer Essstörung sei komplex. «Aber die gesellschaftlichen Zusammenhänge sind der Nährboden dafür», sagt die Kinder- und Jugendpsychiaterin. In den Medien seien seit Jahrzehnten falsche Körperideale allgegenwärtig, ebenso der Schlankheitswahn und ein übermässiger Fokus aufs Essen.
Der Druck hat laut Dagmar Pauli zugenommen. «Früher konnte man ein Magazin weglegen und hatte dann wieder normal aussehende Menschen um sich herum», sagt die Psychiaterin. «Heute hingegen sind bereits 11- und 12-Jährige auf Social Media oft stundenlang mit falschen Körperidealen konfrontiert.»
Nicht für alle Menschen ist das gleich gravierend. Laut Pauli spielt die Persönlichkeit eine zentrale Rolle. «Betroffene haben oft einen ausgeprägten Ehrgeiz und sind sehr perfektionistisch», sagt die Expertin. «Häufig haben sie einen starken Fokus auf Leistung, beispielsweise im Sport, in der Schule und im Beruf», erklärt Pauli.
Orthorexie führt meist in einen Teufelskreis
Orthorexie zählt entgegen der häufigen Annahme nicht als Essstörung, sondern als Zwangsstörung. Das liegt daran, dass der Fokus meist weniger auf dem Gewicht oder dem Körperbild liegt, sondern auf einer möglichst «reinen» Nahrung, also auf einem zwanghaften Kontrollverhalten. Dennoch taucht Orthorexie häufig als Begleiterscheinung von Anorexie, also Magersucht, auf.
Dagmar Pauli beschreibt den Teufelskreis einer Orthorexie, wie ihn Madeleine Dähling lange erlebt hat: «Bei Betroffenen dreht sich zwanghaft alles ums Essen, andere Themen rücken in den Hintergrund», erklärt Pauli. Häufig ziehen sich diese Menschen aus ihrem sozialen Umfeld zurück. «Sind sie dann aber sozial isoliert, kann das die Orthorexie weiter verstärken.»
Wie sollten sich Angehörige in dieser Situation verhalten? «Sie sollten das Problem und ihre Sorgen um die Betroffenen ansprechen», sagt Dagmar Pauli. «Ich habe schon mehrfach beobachtet, dass durch die Hilfe einer Freundin ein schlimmerer Verlauf verhindert werden konnte.»
Bei Madeleine Dähling reichte dies noch nicht. Ihre Freunde und ihre Schwester sprachen sie mehrfach auf ihr penibles Essverhalten an. Sie stritt stets ab, ein Problem zu haben. «Ich habe mich nie krank gefühlt», sagt sie heute. «Im Gegenteil: Ich glaubte, alles richtig zu machen. Ich habe mich überlegen gefühlt.»
Der Wendepunkt kam mit einer Pizza
Der Schlüsselmoment kam vor ein paar Jahren; Madeleine Dähling wohnte inzwischen in einer WG. Eines Abends bestellten ihre Mitbewohner spontan Pizza. «Zuerst fragte ich mich, wie man einfach so Pizza bestellen könne, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben», erzählt Dähling. «Gleichzeitig fand ich es toll, so locker mit Essen umgehen zu können und so unbeschwert zu sein.» Sie realisierte, wie sehr sie sich selbst einschränkte.
Madeleine Dähling begann, wieder mehr Kohlenhydrate zu essen. Ihre Periode kam zurück, sie hatte mehr Energie. Vor rund drei Jahren begann sie sich intuitiv zu ernähren. Das ist ein Ansatz, bei dem man auf die Signale des eigenen Körpers wie Hunger, Sättigung und Appetit hört, anstatt strikten Diätregeln zu folgen. «Heute nehme ich die Bedürfnisse meines Körpers wieder wahr. Aber das war ein sehr langer Weg.»
Dähling sagt, sie sei heute von ihrer Orthorexie geheilt. Als Ernährungsberaterin hilft sie anderen Betroffenen. Ob sie manchmal noch zwanghafte Gedanken um gesunde und ungesunde Lebensmittel hat? «Gar nicht. Wenn ich heute eine Pizza esse, dann bin ich erstaunt, wie leicht es mir fällt.» Sie fügt an: «Erst seit ich nicht mehr zwanghaft gesund esse, fühle ich mich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich gesund.»