Der Deutsche Sebastian Thrun zählt zu den bekanntesten Erfindern der USA. Im Interview erklärt er, wieso wir bald unsere Kleider drucken werden – und wieso nicht nur Washington, sondern auch Berlin etwas mehr Silicon Valley vertrüge.
Das «next big thing» entsteht womöglich gerade in einem ehemaligen Schienenlager im Presidio-Quartier in San Francisco. Das Viertel war früher ein Militärstützpunkt am Golden Gate, heute haben hier Startups und Wagniskapitalgeber ihre Büros. In einem weiss gestrichenen Holzbau sitzen ein Dutzend Millennials vor Bildschirmen, ein Hund begrüsst die Besucher freudig, auf ein Whiteboard sind Formeln gekritzelt.
Woran sie genau arbeiten, möchte der CEO Sebastian Thrun nicht erzählen, man befinde sich im «stealth mode», also im Tarnmodus eines neuen Startups. «Es geht um prädiktives Einkaufen», verrät Thrun – schwarze Sportkleider, weisse Turnschuhe – und erläutert: «Der Supermarkt der Zukunft weiss vor mir, dass ich neue Eier brauche, und bestellt sie mir einfach.»
Es klingt futuristisch, doch Thrun war seiner Zeit schon immer einen Schritt voraus. Der gebürtige Deutsche zählt zu den Überfliegern im Silicon Valley: Bei Google entwickelte er 2009 das erste selbstfahrende Auto, gründete das Deep-Learning-Labor Google Brain, den Kartendienst Street View. Mit Udacity baute er eine der ersten Internet-Hochschulen auf, danach versuchte er fliegende Autos auf den Markt zu bringen. Damit scheiterte er allerdings.
Nun stehen seine zwei Spezialfelder kurz vor der Fusion: Generative künstliche Intelligenz verändert zurzeit die Robotik und damit die physische Welt.
Herr Thrun, Sie sind der Kopf hinter Googles selbstfahrendem Auto namens Waymo. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Robotaxis heute überall in San Francisco sehen?
Ich bin unglaublich stolz. (Lacht.) Ich hatte bei Google ein selbstfahrendes Auto entwickeln wollen, weil ich mit 18 Jahren meinen besten Freund in Hildesheim durch einen Verkehrsunfall verloren hatte. Bis heute sterben jeden Tag allein in den USA 120 Menschen in Verkehrsunfällen – oft von Menschen verschuldet.
Viele hielten die Idee damals für völlig verrückt. Und nun, sechzehn Jahre später, unterhält Google tatsächlich ein ganzes Netzwerk an Robotaxis, die laut einer Studie von Swiss Re acht Mal so sicher sind wie menschliche Fahrer. Das ist schon ganz toll.
Nicht nur die Robotaxis erobern amerikanische Städte – auch die Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz überschlagen sich. Welche finden Sie zurzeit am spannendsten?
Dass nun viele Organisationen so wie Deepseek die Ergebnisse von Open AI replizieren können. Das bedeutet, dass die Technologie kostengünstig im breiten Rahmen eingesetzt werden kann – und nicht mehr von wenigen Firmen kontrolliert wird. Interessant wird nun die Suche nach konkreten Anwendungen: Wer kann diese theoretischen Resultate nutzen, um direkt Produkte zu bauen, die die Welt verbessern? Da tut sich im Moment kommerziell noch relativ wenig, wenn man von Suchmaschinen und Chatbots absieht. Aber das wird sich schnell ändern.
Wo genau sehen Sie denn das grösste Potenzial von KI in den nächsten Jahren?
Zum einen wird man versuchen, die Produktivität von Rechtsanwälten, Werbefachleuten und Finanzexperten zu steigern, damit sie besser und schneller Entscheidungen treffen können. Da passiert schon jetzt einiges, insbesondere die Softwareentwicklung hat sich durch KI massiv beschleunigt.
Zum anderen kann KI auch bei der Entwicklung ganz neuer Produkte helfen, die die Gesellschaft wirklich umkrempeln. In Zukunft wird jede Firma ihre Kunden viel besser kennen und stark individualisierte Produkte anbieten, davon bin ich überzeugt.
Solche Beschreibungen machen vielen Leuten Angst, die fürchten, dass die KI ihre Jobs ausradieren wird.
Einige Jobs sind sicher längerfristig in Gefahr, zum Beispiel Taxifahrer, weil es immer mehr selbstfahrende Autos geben wird.
Wenn manuelle Arbeiten wegfallen, werden wir neue Tätigkeiten erfinden. Das war immer schon so – und wir sind insgesamt doch froh, nicht mehr alle in der Landwirtschaft arbeiten zu müssen wie vor dreihundert Jahren. Damit wird auch der Wohlstand von jedem in einer Gesellschaft steigen, das hat die Geschichte immer wieder gezeigt.
Alle Tech-Konzerne und unzählige Startups liefern sich inzwischen ein Wettrennen um schnellere, bessere KI. Grundsatzfragen zur Ethik oder zu den Trainingsmethoden bleiben da auf der Strecke. Sorgt Sie das?
Eine breite gesellschaftliche Diskussion ist sicher gut. Am Beispiel der Deepfakes sehen wir ja, wie Kriminelle bereits KI für ihre Zwecke missbrauchen.
Aber insgesamt wird das ganze Feld der KI schon sehr verantwortungsvoll geführt. Ich bin überzeugt: Neue Technologien wirken sich meist positiv auf die Menschheit aus, wenn man sie verantwortlich einsetzt. Auch bei der Erfindung des Autos oder des elektrischen Stroms gab es Befürchtungen, dass sie die Welt zerstören würden – und es kam nicht so.
Regulierung sollte nach dem Missbrauch kommen, nicht davor. KI ist ja keine Atomwaffe, bei der bereits jeglicher Missbrauch katastrophale Folgen hätte und die man von vorneherein regulieren muss.
«Europe regulates, America innovates», sagt man hier im Silicon Valley. Finden Sie das problematisch?
Ich wünschte mir, dass man in Deutschland mehr Neugier und Bereitschaft für Risiken zeigen würde. Der Pioniergeist ist verlorengegangen und einem Bedürfnis nach Sicherheit gewichen. Ich kann das verstehen: Die Weltkriege, die Ost-West-Teilung, die Stasi – das alles hat eine Skepsis geschürt und Sorgen, dass Daten missbraucht werden können.
Der Regulierungsgedanke in Europa stammt aber noch aus einer Ära, in der der Fortschritt sehr viel langsamer geschah. Jetzt leben wir in einer Zeit, in der technologisch so viel so unglaublich schnell passiert, dass sich regulative Strategien anpassen müssen. Heute kann keiner vorhersagen, was wir in fünf Jahren machen werden – genauso wie vor fünf Jahren keiner Chat-GPT vorhergesagt hätte.
Inzwischen stammt ausser SAP kein Tech-Konzern mehr aus Deutschland, auch keine der grossen KI-Firmen.
Dabei hat Deutschland ein unglaublich gutes Ausbildungssystem, besser als das der USA! Auch im Patentbereich liegt das Land ganz vorne. Es hätte also alle Voraussetzungen, um sich nach vorne zu bringen. Aber dafür müsste man Innovationen fördern und mit einer positiven Sicht auf neue Technologien blicken. Doch in der deutschen Politik, der Presse, an den Universitäten, überall hört man vor allem kritische Stimmen – teilweise zu Recht. Hier in den USA sind diese kritischen Stimmen nicht so dominant. Man ist eher bereit, etwas einfach einmal auszuprobieren.
Was müsste sich ändern, damit der nächste Sebastian Thrun in Deutschland bleibt?
(Lacht.) Ich bin Deutschland sehr dankbar. Und ich wünschte mir für meine Heimat mehr Gründertum – und damit einhergehend die Bereitschaft, die Steuern und Regulierungen unternehmerfreundlicher zu gestalten. Auch Energie müsste wieder günstiger werden, das ist für viele Firmen ein grosses Problem.
Kulturell würde ich mir wünschen, dass man wieder den Pioniergeist feiert, den es im Land vor hundert Jahren ja eindeutig gab. Wenn ich nach Deutschland komme, habe ich immer das Gefühl, dass mich andere als Dieb sehen, weil ich hier in den USA ein bisschen Geld verdient habe. Für viele Deutsche ist die Welt ein Nullsummenspiel: Wenn jemand erfolgreich ist, hat er jemand anderem etwas weggenommen. Ich hingegen glaube, alle Menschen können gleichzeitig gewinnen.
Die nächste grosse Technologiewelle rollt bereits auf uns zu: Die KI trifft nun auf die Robotik und kommt damit in der realen Welt an. Sie forschen in beiden Feldern seit Jahrzehnten – was wird das bedeuten?
Wir werden in den nächsten Jahren enorme Innovationen in der Robotik sehen – nicht nur bei humanoiden Robotern, die also den Menschen direkt ersetzen können, sondern auch im produzierenden Gewerbe dank 3-D-Druckern. Die Änderungen werden systemisch sein, ähnlich wie Airbnb das Hotelwesen verändert hat.
Können Sie ein Beispiel geben?
Wenn sich ein Kunde ein neues Hemd wünscht, wird das genau dann für ihn massgeschneidert gedruckt. Es gibt keinen teuren Ausschuss mehr. Autos wird man sich so bauen lassen können, dass sie genau den Bedürfnissen der eigenen Familie entsprechen. Alle Produkte werden sehr viel persönlicher sein.
Die enorme Geschwindigkeit dieses Wandels sehen wir jetzt schon in San Francisco. Dort sind die Robotaxis von Waymo nach nur eineinhalb Jahren der zweitgrösste Anbieter von Fahrdiensten.
Sie hatten auch versucht, ein fliegendes Auto zu bauen. Wieso ist das Vorhaben gescheitert?
Es ist nicht unbedingt gescheitert – wir haben grosse Teile der Firma 2022 an Boeing verkauft und den Forschungsteil in ein Labor umgewandelt. Insgesamt war das Vorhaben aber deutlich langsamer vorangeschritten, als ich es wollte. Die Aufsichtsbehörden kannten nichts Vergleichbares. Bis wir autonome Flugsysteme in den Flugverkehr eingespeist haben, wird es noch mehr Arbeit und Zeit benötigen, als ich dachte. Vielleicht waren wir unserer Zeit einfach voraus, das wird die Zukunft zeigen.
Kommen wir auf die Politik zu sprechen: Big Tech spielt neuerdings eine grosse Rolle in Washington, auch dank Elon Musk. Was halten Sie von dieser Sillicon Valley-isierung der amerikanischen Politik?
Ich halte eine enge Beziehung zwischen Privatsektor und Politik für eine gute Sache. Während Trumps erster Amtszeit hatte ich selbst eng mit seiner Tochter Ivanka zusammengearbeitet. Gemeinsam mit Apples CEO Tim Cook haben wir versucht, ihr dabei zu helfen, die Aus- und Weiterbildung in den USA zu verbessern. Das finde ich sehr begrüssenswert, und ich bin da auch überhaupt nicht politisch.
Meine eigene Wertvorstellung ist, dass ich die Gesellschaft nach vorne bringen möchte. «Liberté, Égalité, Fraternité», wie die Franzosen sagen. Jeder Mensch verdient die gleiche faire Chance, im Leben weiterzukommen – und wenn man sie ergreift, soll man davon auch profitieren dürfen. Da stimme ich mit der Regierung völlig überein.
Sie selbst haben viele Chancen ergriffen – und sprechen sich seit langem für lebenslanges Lernen aus. Wie sieht das konkret bei Ihnen aus?
Indem ich Firmen in Bereichen aufbaue, in denen ich mich überhaupt nicht auskenne. Ich springe von einem Dampfer runter und lerne das Schwimmen, sobald ich im Wasser lande. (Lacht.) Das macht mir grossen Spass.
Meine Grundregel ist allerdings, dass man jeden Fehler nur einmal machen darf. Sonst habe ich nicht gelernt. Wenn ich Bewerber für meine Firmen interviewe, frage ich immer, was sie einmal falsch gemacht hätten. Den meisten fällt nichts ein. Dann sind sie wahrscheinlich auch nicht sehr lernfähig.
Wir müssen uns in der Gesellschaft oft so verkaufen, als ob wir alles könnten und wüssten. Dabei machen wir alle ständig Fehler! Aber wenn man sich dessen bewusst ist, kann man viel selbstbewusster auftreten – weil man auch weiss, dass man die Fehler wieder beheben kann.
Was würden Sie auf Ihre eigene Frage antworten: Was haben Sie falsch gemacht?
Mit meiner Online-Universität Udacity zum Beispiel fast alles. Wir haben anfangs viel zu wenig Geld verlangt und konnten unsere Lehrer nicht vernünftig bezahlen. Wir haben zu spät auf die KI reagiert und hätten schneller viel mehr automatisieren können. Das sind nur einige Beispiele. Letztlich bin ich aber sehr stolz auf Udacity. Meine Firmen hatten alle auch ein komplett neues Geschäftsmodell erfunden, da ist die Lernkurve naturgemäss steil. Ich baue ja keine Pizzaketten auf.