Die Mitarbeiterin war mehrmals von einem Bereichsleiter sexuell belästigt worden.
Das erste Mitarbeitergespräch im Januar 2020 mit der jungen Frau fällt wohlwollend aus. Sie arbeite sorgfältig und umsichtig, sei lernwillig und organisiere sich gut, bescheinigt ihr die Vorgesetzte. Im Team sei sie angenehm und «sehr freundlich» mit Aussenstellen. Allerdings müsse sie das «Geschwätz mit anderen Mitarbeitern besser im Griff haben».
Es ist ihre erste Stelle seit ihrer Lehre, sie ist als Sachbearbeiterin im neuen Verwaltungs- und Werkgebäude einer Gemeinde im Kanton Zürich tätig. Rund ein Jahr später, am 21. März 2021, erhält die damals 22-Jährige die Kündigung. Da hat sich der Ton geändert.
In der Begründung heisst es, die Mitarbeiterin habe «wiederholt die personalrechtliche Pflicht zum anstands- und rücksichtsvollen gegenseitigen Umgang verletzt». Dies habe zu einer «tiefgreifenden Störung des gegenseitigen Vertrauens» geführt. Es sei zu befürchten, dass bei einer Weiterbeschäftigung «weitere, von ihr initiierte Diskussionen aufkommen».
Doch die Frau wehrt sich gegen ihre Entlassung – und geht vor Gericht. Denn für sie ist klar: Ihr wurde gekündigt, weil der Leiter eines anderen Bereichs in der Verwaltung sie sexuell belästigt hatte und die Gemeinde ihr ein «faires Verfahren» verweigern wollte. Sie sei als Täterin verunglimpft worden.
«Nippeln» als Teamritual
Das soeben publizierte Urteil des Verwaltungsgerichts lässt tief blicken in die Verhältnisse, die am Arbeitsplatz der jungen Frau herrschten. Die Rede ist von einem «unangemessenen und grenzüberschreitenden Umgang», den die ausnahmslos männlichen Angestellten in der betroffenen Abteilung gepflegt hätten.
Es ist ein Umfeld, in dem sich die Kollegen in einem «Teamritual» gegenseitig in die Brustwarzen kneifen. Sie nennen es «nippeln». Ein Umfeld, in dem der übergriffige Bereichsleiter in seinem Büro vor der jungen Frau tanzt und ihr sagt, sie solle ihm ihre Brüste zeigen oder sich auf seinen Schoss setzen. Ein anderes Mal sagt er im Gespräch mit einem Kollegen über eine weitere Mitarbeiterin: «Die ficke ich auch noch.»
Was das Urteil auch zeigt: Die Vorgesetzten wussten von den Belästigungen.
Eines Tages, im August 2020, erscheint die junge Frau zu spät zur Arbeit und wirkt gemäss einem Eintrag in ihrem Personaldossier «etwas zerstreut». Als ihre Chefin nachfragt, was los sei, antwortet sie, es gehe ihr nicht gut – weil der Bereichsleiter eines anderen Teams sie sexuell belästigt und ans Hinterteil gefasst habe.
Die Chefin weist sie an, den Vorfall ihrem Abteilungsleiter zu melden, was sie später auch tut. Gleichzeitig macht sie den Bereichsleiter darauf aufmerksam, dass sein Verhalten sexuelle Belästigung darstelle. Und sie verbietet ihrer Mitarbeiterin, sich in den Büros der anderen Abteilung aufzuhalten. Doch diese hält sich nicht daran. Und sie berichtet ihren Kollegen von der Belästigung. In einer Aktennotiz heisst es später, alle Angestellten wüssten nun «von diesem sehr leidigen Vorfall».
Wenig später schreibt die junge Frau ihrem Abteilungsleiter eine E-Mail. Sie sei mit der Situation überfordert, es gehe ihr immer schlechter. Im Betrieb fühle sie sich nicht mehr wohl. Und mit dem Mann, der sie belästigt habe, könne sie nicht mehr zusammenarbeiten – aus Angst, dass es noch einmal zu einem Übergriff komme.
In den folgenden Wochen gehen bei der Gemeinde mehrere anonyme Schreiben ein. Darin heisst es, die Gemeinde dürfe sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht dulden. Also führt sie eine interne Untersuchung mit Mitarbeiterbefragungen durch.
Diese zeigt den «lockeren Umgang» der Kollegen untereinander auf, die sich gegenseitig mit Spitznamen necken und sich oft kollegial auf die Schultern klopfen. Vermerkt ist auch eine Wasserschlacht, die sich die Angestellten an einem heissen Sommertag draussen vor den Büros lieferten. Die junge Frau hat dabei mitgemacht. Sie hat sich immer wieder über Mittag und nach Feierabend in den Büros der anderen Abteilung aufgehalten und an den Neckereien beteiligt.
Was die Befragungen auch aufzeigen: Die junge Frau, die damals noch bei ihren Eltern wohnte, hatte familiäre Probleme – und konnte zu Hause mit niemandem über Privates reden. In einem psychotherapeutischen Bericht ist festgehalten, dass sich die Mitarbeiterin von ihrer Vorgesetzten und der Personalverantwortlichen im Stich gelassen gefühlt habe.
Das sagt die Gemeinde
heu. Um die Persönlichkeitsrechte der betreffenden Mitarbeitenden zu schützen, anonymisiert die NZZ die Gemeinde. Wir haben die Leitung der Verwaltung aber um Stellungnahme gebeten. Wie sie auf Anfrage sagt, ist es in Zusammenhang mit dem Fall zu weiteren Entlassungen und Abmahnungen gekommen. Um sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu verhindern, wurden regelmässige interne Sensibilisierungskampagnen zusammen mit der kantonalen Fachstelle für Gleichstellung für alle Mitarbeitenden etabliert. Führungskräfte würden geschult und die Pflichten und Verantwortung der Vorgesetzten beziehungsweise der Arbeitgeberin dargelegt. Neuen Mitarbeitenden werde weiterhin ein Merkblatt betreffend sexuelle Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz abgegeben. Zudem werde am Einführungsanlass für neue Mitarbeitende der Umgangs- sowie Verhaltenskodex besprochen. Den Mitarbeitenden stehe eine externe vertrauliche Beratungsstelle für verschiedene persönliche Themen zur freien Verfügung. Auch Whistleblowing werde regelmässig an Personalinformationsanlässen thematisiert, wofür interne wie externe Anlaufstellen verfügbar seien.
Fragwürdigen Umgang «stillschweigend toleriert»
Das Verwaltungsgericht ist nun zu dem Schluss gekommen, dass die Kündigung ungerechtfertigt zwar. Zwar habe die junge Frau beim grenzüberschreitenden Umgang der Angestellten in der betreffenden Abteilung mitgemacht. Im Rahmen der Untersuchung hätten aber alle befragten Mitarbeiter angegeben, die Zusammenarbeit mit der Frau sei problemlos gewesen. Zudem sei der fragwürdige Umgang untereinander stillschweigend toleriert worden, bis die Frau am Hinterteil betatscht worden sei.
Das Argument der Gemeinde, die junge Frau habe ihre Arbeit vernachlässigt und sich nicht an Abmahnungen gehalten, lässt das Gericht nicht gelten. In den Akten sei dies nicht oder nur teilweise belegt. Im Gegenteil gab die Vorgesetzte im Rahmen der Untersuchung an, die Mitarbeiterin habe sich «bis Anfang Sommer 2020» korrekt verhalten.
Zwar habe sich die Mitarbeiterin tatsächlich in den anderen Büros aufgehalten, allerdings nur nach Feierabend und in den Pausen. Sie habe den Kontakt zu den anderen Angestellten wohl aber vor allem gesucht, weil sie verunsichert gewesen sei von der Reaktion ihrer Vorgesetzten auf die sexuelle Belästigung.
Im Urteil kommt die Gemeinde schlecht weg. Sie habe nichts unternommen gegen den «allgemein bekannten» problematischen Umgang der Mitarbeiter untereinander und eine Arbeitsatmosphäre geschaffen, die «förderlich war für (weitere) sexuelle Belästigungen». Vor Gericht habe die Gemeinde in diesem Zusammenhang lediglich darauf hingewiesen, sämtlichen Mitarbeitenden bei ihrem Eintritt ein Merkblatt zu sexueller Belästigung und Mobbing am Arbeitsplatz abgegeben zu haben.
Die Gemeinde muss der jungen Frau nun eine Entschädigung in der Höhe von zwei Monatslöhnen, 6290 Franken Entschädigung und 1258 Franken Schadenersatz zahlen. Der Entscheid ist rechtskräftig, das heisst, sowohl die Frau als auch die Gemeinde haben das Urteil akzeptiert.
Urteil VB.2024.00011 vom 23. Oktober 2024, rechtskräftig.