Seit Anfang Jahr müssen italienische Grenzgänger deutlich mehr Steuern bezahlen. Das neue Steuerregime soll der Abschreckung dienen. Die Tessiner Wirtschaft ist alles andere als begeistert.
Jahrelang verhandelten die Schweiz und Italien über das neue Grenzgängerabkommen. 2020 wurde es endlich unterschrieben, seit vergangenem Sommer ist es in Kraft. Und seit diesem Jahr müssen gewisse italienische Grenzgänger in ihrer Heimat viel mehr Steuern bezahlen.
Unterschieden wird nun zwischen «bisherigen» und «neuen» Grenzgängern: Italienische Arbeitspendler sind «neu», wenn sie ab Juli 2023 zu einem Job in der Schweiz gekommen sind. Nur für sie ändert sich die Situation. Für die Grenzgänger, die bereits vorher in der Schweiz arbeiteten, bleibt bis zu ihrer Pensionierung alles beim Alten.
Das neue Grenzgängerabkommen ersetzt die bisherige Vereinbarung aus dem Jahr 1974. Diese war für die «Frontalieri» überraschend vorteilhaft: Sie mussten im Tessin, wo die allermeisten von ihnen arbeiten, 100 Prozent des einkommensabhängigen Quellensteuersatzes bezahlen – und in Italien überhaupt keine Steuern.
Dies ist nun teilweise anders. Seit Jahresbeginn entrichten die neuen Grenzgänger in der Schweiz zwar nur noch 80 Prozent des einkommensabhängigen Quellensteuersatzes. Jedoch hat Italien mit dem neuen Abkommen das Privileg der Steuerfreiheit abgeschafft. Die Neo-Frontalieri werden, wie der grosse Rest ihrer Landsleute, ab sofort ordentlich besteuert.
Dadurch verdienen die neuen Grenzgänger netto empfindlich weniger im Vergleich zu den bisherigen. Zumal sie ohnehin meist zum Tessiner Mindestlohn von 19 Franken 75 pro Stunde arbeiten. Besonders für die tieferen und mittleren Lohnklassen dürfte sich die steuerliche Belastung gleich um das Drei- bis Vierfache erhöhen.
Ein Drittel der Tessiner Jobs in italienischer Hand
Das neue Abkommen ist politisch motiviert und hat vor allem ein Ziel: die Abschreckung der Grenzgänger. Rund 80 000 italienische Frontalieri kommen täglich in den Südkanton zur Arbeit. Damit ist praktisch ein Drittel der Tessiner Jobs in italienischer Hand.
In Norditalien sind die Löhne im Vergleich meist sehr tief. Daher nehmen die Frontalieri im Tessin ein bescheidenes Salär und schlechtere Arbeitsbedingungen gerne in Kauf, weil sie so oder so mehr verdienen. Dadurch wächst generell der Druck auf die Tessiner Löhne. Die hiesige Bevölkerung, die Rechtsparteien Lega und SVP und linksgerichtete Gewerkschaften befürchten, dass die heimischen Arbeitnehmenden verstärkt mit Lohndumping konfrontiert werden. Auch besteht der Trend, neu geschaffene Arbeitsplätze direkt an Grenzgänger zu vergeben.
Dem soll das neue Abkommen langfristig entgegenwirken. Denn mit der Zeit werden immer mehr «alte» Grenzgänger in Rente gehen, und angesichts des gesunkenen Nettoverdienstes sollten immer weniger neue kommen. Zumal auch die Pendelzeiten von zwei oder mehr Stunden täglich nun stärker ins Gewicht fallen.
Leiden wird der Dienstleistungssektor
Die Tessiner Wirtschaft ist vom neuen Grenzgängerabkommen nicht begeistert. Bereits sind Stimmen aus dem Gastgewerbe laut geworden, die einen merklichen Rückgang bei Frontalieri bei Stellenbewerbungen beklagen.
«Ich denke, dass der negative Effekt alle Wirtschaftsbereiche treffen wird, aber vor allem den Dienstleistungssektor», sagt der Unternehmer Ivano Dandrea. Als Vorstandsmitglied der Vereinigung Coscienza Svizzera analysiert er die wirtschaftlichen und demografischen Vorgänge im Tessin.
In der Industrie herrschen laut Dandrea seit Jahren eher stabile Verhältnisse. Diese dürften sich auch jetzt kaum ändern. Im Bereich der Dienstleistungen hingegen sei schon jetzt ein Personalmangel festzustellen.
Dies besonders im Gesundheitswesen, aber auch in der Gastwirtschaft und der Hotellerie – alles bedeutende Branchen für das Tessin. Gerade dort sind die Grenzgänger unentbehrlich, wie die Zahlen belegen. In den letzten zwanzig Jahren hat sich die Zahl der Frontalieri im Dienstleistungsbereich mehr als verdreifacht und beträgt jetzt 53 000.
Home-Office und starker Franken nützen wenig
Zwei weitere Faktoren kommen nun ins Spiel: erstens die im November getroffene Vereinbarung zwischen der Schweiz und Italien, Home-Office-Arbeit für die Grenzgänger ohne steuerliche Konsequenzen zuzulassen, zweitens der starke Franken. Auf den ersten Blick scheint es, als könnten beide Faktoren den Effekt der Abschreckung dämpfen.
25 Prozent Home-Office findet Dandrea zu wenig. In seinen Augen müsste vor allem den jüngeren Frontalieri ein höherer Anteil an Fernarbeit zugestanden werden. Zusammen mit dem geringeren Nettolohn und den langen Anfahrtszeiten wird diesen Grenzgängern das Tessin immer weniger attraktiv erscheinen. Auch zwischen Frankreich und der Schweiz besteht eine Home-Office-Vereinbarung für die Frontaliers. Diese lässt allerdings 40 Prozent Heimarbeit zu.
Auch der starke Franken vermag die Nettolöhne der neuen Frontalieri offenbar nicht zu stabilisieren. Hier besteht eine widersprüchliche Situation: Die Grenzgänger brauchten einen noch stärkeren Franken, damit ihre Lohntüte nicht allzu dünn wird. Die Tessiner Firmen jedoch sind auf einen deutlich schwächeren Franken angewiesen, um konkurrenzfähig zu bleiben.
Exodus des Gesundheitspersonals stoppen
Italien hat sich nicht nur wegen der höheren Steuereinnahmen auf das neue Abkommen eingelassen. Vor allem den italienischen Grenzregionen kommt die potenziell abschreckende Wirkung sehr gelegen. Diese kämpfen mit einem Exodus gut ausgebildeter Arbeitskräfte, besonders aus dem Gesundheitswesen, in Richtung Tessin. Michele Rossi von der Tessiner Handelskammer beobachtet diese Tendenz seit einigen Jahren. Das nahe Tessin mit seinen zum Teil dreimal so hohen Löhnen im Gesundheitswesen habe bisher eine starke Sogwirkung gehabt, sagt er.
Die Behörden der Region Lombardei sind über diesen Exodus besorgt. Sie planen Gegenmassnahmen, die freundlicher wirken sollen als die neue ordentliche Besteuerung der Grenzgänger. Zum Beispiel soll das Gesundheitspersonal eine zusätzliche Prämie auf seinen Lohn erhalten.
Diese wollen die Behörden durch eine Abgabe finanzieren, die von den «alten» Grenzgängern entrichtet werden soll. Die bereits beschlossene «Gesundheitsprämie» stösst bei den betroffenen Frontalieri und bei den Gewerkschaften erwartungsgemäss auf wenig Gegenliebe. Generell erwartet Rossi, dass Italien die Löhne in den typischen Grenzgänger-Branchen anheben muss. Das könne zum Beispiel durch staatliche Prämien für Firmen erfolgen, die bessere Löhne zahlen wollten.
Jagd auf Arbeitskräfte
Dem Tessin gehen wegen Überalterung der Bevölkerung immer mehr heimische Arbeitskräfte verloren. Dazu kommt, dass hochqualifizierte junge Arbeitskräfte schnell einmal nach Norden ziehen, in Richtung Deutschschweiz.
Also müssen die Tessiner Firmen den Mangel beheben, indem sie den lombardischen Arbeitsmarkt anzapfen. Dieser Weg scheint durch das neue Grenzgängerabkommen und die künftigen italienischen Gegenmassnahmen bedroht.
Das Fehlen von Arbeitskräften wird laut Dandrea die wirtschaftlichen Aktivitäten im Tessin drosseln. Um dagegenzuhalten, muss man die Produktivität erhöhen. Alles in allem gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Entweder steigen im Tessin die Löhne – auch für die Grenzgänger – oder es kommt zu einem Mangel an Arbeitskräften. Dandrea prognostiziert: «Es wird eine richtiggehende Jagd auf Arbeitskräfte geben, vor allem auf die gut ausgebildeten.»