Weil der Oberstleutnant der sowjetischen Flugabwehr den Computern misstraute, blieb der Welt ein Atomkrieg erspart. Lukas Maisel macht ihn nun zum Helden eines Romans. Mit der philosophischen Dimension von Petrows Entscheidung tut sich das Buch schwer.
Es ist nicht so, dass die Welt von Stanislaw Petrow noch nichts gehört hätte. Über den 2017 verstorbenen ehemaligen Oberstleutnant der russischen Flugabwehr gibt es Dokumentarfilme. Er wurde mit Denkmälern bedacht, und seine grosse Tat ist sogar in Pop-Songs gewürdigt. Roger Waters von Pink Floyd hat dem Mann aus dem Dorf Tschernigowka eine Coverversion von «The Gunner’s Dream» gewidmet. Das Ereignis, das Petrows Leben so entscheidend veränderte, fand am 16. September des Jahres 1983 statt.
Petrow hatte in der südlich von Moskau angesiedelten Zentrale des sowjetischen Satellitenüberwachungssystems das Kommando, als die Computer einen Angriff amerikanischer Raketen auf Russland meldeten. Innerhalb von Minuten musste der ausgebildete Luftfahrttechniker darüber entscheiden, ob die Sowjetunion mit einem atomaren Gegenschlag antworten sollte. Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow hat in diesem Augenblick die Nerven behalten und die Erde womöglich vor ihrer finalen Katastrophe bewahrt. Zum Glück wurde die Alarmkette von ihm nicht ausgelöst. Es sollte sich herausstellen, dass der initiale Fehler bestürzend banal war: Ein sowjetischer Grossrechner hatte Reflexionen der Sonne auf den Wolken über Amerika für den Lichtschweif startender Raketen gehalten.
Verliebt in den Himmel
Über vierzig Jahre danach ist das immer noch ein guter Stoff, auch für die Literatur. Er hat etwas Symbolisch-Übermächtiges, weil im historischen Augenblick atomarer Gefahr die Nichtigkeit des Menschen genauso sichtbar wird wie seine Fähigkeit zur Grösse. Ein dickes Buch hätte man darüber schreiben können. Aber der Schweizer Schriftsteller Lukas Maisel hat sich für ein sehr spezielles Format entschieden: für einen Kleinstroman, eher eine Novelle. In Maisels «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete» wird die Geschichte des Oberstleutnants Petrow auf etwas eingedampft, das man die Essenz nennen könnte, wenn es in diesem Buch nicht nur poetisch, sondern auch ein bisschen essenziell zuginge.
Schon am Anfang von Maisels Geschichte wird einem ganz russisch ums Herz: «Stanislaw Petrow lebte mit Frau und Kindern in einem Städtchen, das auf keiner Karte zu finden war.» Was hier auf der erzählerischen Landkarte wächst und als «Städtchen» bezeichnet wird (es fehlt nur noch «Väterchen» Petrow), ist allerdings kein märchenhaftes Mysterium, sondern ein Gebilde sowjetischer Geheimhaltung.
Die in den frühen 1980er Jahren noch sehr neue Raketenabwehranlage sollte mitsamt ihrem Personal dem westlichen Gegner verborgen bleiben. Nicht einmal seiner Frau Raisa darf Stanislaw sagen, was er beruflich so treibt. Dafür sagt uns Lukas Maisel, wie er in der Kindheit war. «Stasik, warum schaust du immer in den Himmel?», hat schon die Mutter den kleinen Träumer gefragt. Als junger Mann ist er immer noch in den Himmel über der Kamtschatka verliebt, wo er damals lebt; aber auch schon ein bisschen in die Filmvorführerin der Militärbasis. Mit Raisa wird er zwei Kinder zeugen und mit naivem Staunen die Vorgänge der Weltpolitik zur Kenntnis nehmen.
Im März 1983 spricht der amerikanische Präsident Ronald Reagan von der Sowjetunion als einem «Reich des Bösen». Nach dem Tod Breschnews ist in Petrows Heimat Juri Andropow an der Macht. Nach allem, was man weiss, war es eine Zeit aussenpolitischer Improvisation und nur scheinbar vorhandener militärischer Stärke. Der Fall Petrow offenbart recht eigentlich das Fiasko einer technisch weit in Rückstand geratenen Sowjetunion. An manchen Stellen wird das in Lukas Maisels Roman auch fast satirisch reflektiert. Einmal sollte Breschnew bei einer Übung den berühmten roten Knopf drücken, war sich dabei aber nicht sicher, ob ihm seine Generäle nicht einen Streich spielten und er damit tatsächlich einen Atomkrieg ausgelöst hätte.
Spiel mit dem roten Knopf
In der fatalen Nacht des Jahres 1983, die Maisel schildert, stellte sich die Frage, was wohl passieren würde, wenn man Andropow, den medikamentenbenebelten und nierenleidenden Präsidiumsvorsitzenden des Obersten Sowjets, aus dem Krankenbett holen und ihn zu einer Entscheidung zwingen würde. Das grössere Bild lässt sich «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete» entgehen und bleibt leider ganz beim von träumerischer Rechtschaffenheit durchdrungenen Helden.
Dieser Stasik, dem immer gesagt wurde: «Eines Tages wird dich dein Abwarten noch einmal in Schwierigkeiten bringen», wächst in den Stunden der Entscheidung über sich hinaus, indem er so bleibt, wie er ist. Er hat das Herz auf dem rechten Fleck, während der fehleranfällige Computer gar keines hat: «Der Computer konnte die Schönheit Kamtschatkas nicht lieben, und er konnte auch keinen Menschen lieben, und er kannte die Angst nicht, ihn zu verlieren.»
In seinen bisherigen Büchern hat Lukas Maisel poetische Charakterköpfe erfunden, jetzt ist er offenbar zu nah an der Realität gelandet. Die wahre Geschichte des Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow klingt bei ihm wie ein Märchen, klingt nach «Es war einmal vor langer Zeit». Das ist doppelt fatal und raubt dem Roman das wichtigste Relevanzkriterium. Denn gerade jetzt könnte einer wie Wladimir Putin mit einem Druck auf den roten Knopf die Erde innerhalb kürzester Zeit vernichten.
Lukas Maisel: Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete. Roman. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2025. 128 S., Fr. 33.90.