Seit einem halben Jahrhundert experimentiert eine Gemeinschaft von Idealisten an der Küste Südindiens mit alternativen Formen des Zusammenlebens. Doch nun ist das ökologisch-spirituelle Experiment in Gefahr.
Im Innern ist nichts als Stille und Licht. Senkrecht fällt ein Sonnenstrahl von der Kuppel auf eine grosse Glaskugel am Boden. Schweigend und reglos sitzen die Besucher an den zwölf Säulen des kreisrunden Raums, dessen dichter, weisser Teppich alle Geräusche schluckt. Wer in das Matrimandir will, das sich in der Mitte von Auroville als eine riesige, goldene Kugel erhebt, muss am Eingang sein Handy abgeben. Nichts soll die Stille stören, damit sich die Besucher ganz der Meditation widmen und der spirituellen Stimmung hingeben können.
Doch draussen ist es mit der Stille vorbei. Planierraupen reissen breite Schneisen in den Wald um das Matrimandir, um Platz für eine Ringstrasse zu machen. Wie eine rote Wunde zieht sich das Trassee durch das dichte Grün der Bäume. Die Regierung will endlich den Masterplan umsetzen, den die Gründer 1968 für das visionäre Stadtprojekt an der südindischen Küste gezeichnet haben. Doch viele Einwohner finden heute, dass der Plan nicht mehr zeitgemäss ist.
Seit drei Jahren herrscht daher Streit in Auroville. Während die Regierung darauf dringt, endlich die ursprüngliche städtebauliche Vision zu realisieren, sehen viele Einwohner die Identität von Auroville in Gefahr. Es geht um Strassen, welche die Regierung trotz heftigen Protesten durch den Wald schlagen lässt. Vor allem aber geht es um die Frage, wie sich Auroville entwickeln kann, ohne dabei seinen Charakter als experimentelle, spirituelle Gemeinschaft zu verlieren.
Aus Sicht der Regierung haben die Einwohner versagt
Gegründet wurde Auroville – die Stadt der Morgenröte – von einer Handvoll Pionieren, unter ihnen viele europäische Sinnsucher und Hippies. Die Idee für die Stadt hatte die französische Künstlerin und Mystikerin Mirra Alfassa (1878–1973), die von ihren Anhängern nur «Die Mutter» genannt wird. Sie hatte sich 1920 dem Ashram angeschlossen, den der indische Freiheitskämpfer, Philosoph und Yogameister Sri Aurobindo (19872–1950) in der südindischen Küstenstadt Pondicherry gegründet hatte. 1968 wies Alfassa ihre Schüler an, in der kargen Ebene am Rande von Pondicherry eine neue Stadt zu gründen, in der Menschen aller Nationen zusammenleben sollten.
Unter ihrer Anleitung entwarf der französische Architekt Roger Anger den Plan einer spiralförmigen Stadt für 50 000 Einwohner. In der Mitte sollte das Matrimandir als spirituelles Zentrum liegen. Nach 36 Jahren Bauzeit wurde die goldene Kugel schliesslich vollendet. Von einer Stadt ist Auroville aber noch weit entfernt. Eher gleicht es einer Waldsiedlung, deren Gebäude weitläufig zwischen den Bäumen verstreut liegen und deren rote Sandwege im Monsun rasch zu Schlamm werden.
Die Regierung pocht nun darauf, endlich den Masterplan umzusetzen. Aus ihrer Sicht haben die Einwohner versagt, da sie es in fünfzig Jahren nicht geschafft haben, das Ziel von 50 000 Bewohnern zu erreichen. Viele Aurovillianer vermuten jedoch, dass Modis BJP ihre eigenen Anhänger in der Stadt ansiedeln und sich am Verkauf von Land in Auroville bereichern wolle. Auch glauben viele, die Hindu-nationalistische Partei wolle Sri Aurobindo ideologisch für sich vereinnahmen.
Kaum jemand will mit seinem Namen genannt werden
Angefangen habe der Konflikt mit dem Besuch von Narendra Modi im Februar 2018, sagt Anita* bei einem Gespräch in der kommunalen Küche von Auroville, wo sich die Bewohner jeden Tag zum Mittag treffen. Wie fast alle Einwohner, welche die NZZ in Auroville gesprochen hat, will die lebhafte Sechzigjährige über die Ereignisse der letzten Jahre nur reden, wenn ihr echter Name nicht genannt wird. Zu angespannt ist die Stimmung in Auroville und zu gross die Angst vor Konsequenzen, wenn man sich kritisch über die Regierung äussert.
Die Einwohnerversammlung hatte den indischen Premierminister Modi zum Fünfzig-Jahre-Jubiläum von Auroville eingeladen. Heute sehen dies viele als Fehler. Denn in den folgenden Jahren begann die Regierung, sich in die Verwaltung einzumischen und die Kontrolle zu verschärfen. Zwar ist Auroville seit 1988 eine autonome Einrichtung unter Aufsicht des Bildungsministeriums. Doch habe sich die Regierung nie in die inneren Angelegenheiten eingemischt, sagt Anita.
Dies änderte sich abrupt 2021, als die Regierung Jayanti Ravi als Sekretärin der Auroville-Stiftung ernannte. Die hohe Beamtin machte sich sogleich daran, wichtige Posten mit eigenen Leuten zu besetzen und die Mitbestimmungsrechte der Einwohner einzuschränken. Sie habe gezielt versucht, die Gemeinde zu spalten und die Einwohner gegeneinander auszuspielen, sagt Anita. Wer kooperierte, wurde mit Posten belohnt. Wer sich ihr widersetzte, wurde bedroht und mit dem Verlust seines Hauses, seiner Stelle oder seines Visums bestraft.
200 Einwohner warten auf die Verlängerung ihres Visums
Etwa die Hälfte der 3300 Einwohner von Auroville sind Ausländer. Die grössten Gruppen sind Franzosen, Deutsche und Italiener, auch 35 Schweizer gibt es in Auroville. Insgesamt stammen sie aus sechzig Nationen. Viele dieser Ausländer sind wie Anita in Auroville geboren und haben ihr ganzes Leben dort verbracht. Doch zweihundert von ihnen warten seit Jahren auf die Erneuerung ihres Visums. Würden sie Indien verlassen, kämen sie mangels Visum nicht mehr hinein. Auch Anita droht der Verlust ihres Visums, wenn nächstes Jahr die Verlängerung ansteht.
Ihr Einkommen hat Anita bereits verloren. Wie allen Einwohnern steht ihr ein monatliches Grundeinkommen zu. Zwar ist es mehr ein Taschengeld, von dem kaum jemand leben kann, doch zeugt es von der egalitären, solidarischen Philosophie der Stadt. Eigentum gibt es nicht, alle sind gleich und stehen füreinander ein, so die Idee. Doch nachdem Anita aus der Arbeitsgruppe geworfen wurde, in der sie tätig war, hat ihr die Verwaltung auch das Grundeinkommen gestrichen.
Das autoritäre Vorgehen von Jayanta Ravi hat die Gemeinschaft tief verunsichert. Die Vertreterin der Regierung habe die Ausländer als Kolonialisten beschimpft, die indisches Land besetzten, sagt Kiara*, die auf der alten Farm ihres Vaters in Auroville ein Gästehaus betreibt. Als sie darauf verwiesen hätten, dass Auroville als basisdemokratische Gemeinschaft nach eigenen Regeln funktioniere, habe Ravi ihnen vorgeworfen, sich über indische Gesetze hinwegzusetzen.
Bei ihrem Vorgehen beruft sich Ravi auf Mirra Alfassa, auf deren Vision die Gründung von Auroville zurückgeht. Für viele Einwohner macht es aber keinen Sinn, eine Stadt aus dem Boden zu stampfen und Tausende neue Einwohner anzusiedeln. Es gehe doch um etwas anderes in Auroville, sagt Kiara bei dem Gespräch im Hof ihres Gästehauses. Das Ziel sei schliesslich die spirituelle Entwicklung des Individuums und der Gemeinschaft. Da zähle der Weg mehr als das Ergebnis.
Die Einwohner stört die autoritäre Art der Regierung
Kiara ist es aber wichtig zu betonen, dass sie nicht grundsätzlich gegen Veränderung sei. Die Regierung habe versucht, die Auseinandersetzung als einen Konflikt zwischen Befürwortern und Gegnern des Stadtplans darzustellen, sagt Kiara. Doch dies sei falsch, sie seien nicht gegen Entwicklung an sich. Ihnen gehe es vielmehr um die autoritäre Art und Weise, wie die Regierung ihre Vorstellungen ohne Rücksicht auf die Einwohner durchzusetzen versuche.
Avni*, die im Norden von Auroville eine kleine Manufaktur für handgefertigte Produkte betreibt, geht da noch weiter. Auroville müsse sich entwickeln, um überleben zu können, sonst werde es der Landspekulation zum Opfer fallen, sagt die zierliche Inderin, die 1979 im Alter von nur 19 Jahren nach Auroville kam. Die Regierung habe der Gemeinde einen Tritt in den Hintern verpasst. Nun sei die Frage, wie sie sich verändern könne, ohne dabei ihre Ideale zu verlieren.
Avni betont, Auroville habe nie eine Insel ohne Verbindung zum Umland sein sollen. Sie beschäftigt in ihrer Werkstatt rund zwanzig Arbeiterinnen aus den umliegenden Dörfern. Insgesamt bietet Auroville heute rund 5000 Dorfbewohnern Arbeit in den Betrieben, Gästehäusern und Bauernhöfen. Auch zahlreiche Kinder aus dem Umland besuchen die Schulen der Stadt. Dieser Austausch sei wichtig, sagt Avni. Und er zeige, dass Auroville kein Fremdkörper sei in Indien.
Die einstigen Pioniere sind heute nicht mehr wohlgelitten
Für Avni und andere, die ihr Leben dem Aufbau von Auroville gewidmet haben, ist es bitter, dass sie nun von der Regierung als Hindernis für die Entwicklung der Stadt hingestellt werden. Für niemanden gilt dies so sehr wie für Frederick. Der 85-Jährige gehört zu den Gründern der Stadt. Er hat hier das erste Haus gebaut, sein Sohn war das erste Kind, das in Auroville zur Welt kam. Nicht nur hat er sein ganzes Leben Auroville gewidmet, auch sein gesamtes Vermögen hat der Erbe eines Industriellen aus dem Ruhrgebiet der Gemeinde vermacht.
Als Frederick 1968 erstmals zu Banyanbaum kam, den Alfassa als Zentrum der neuen Stadt ausgesucht hatte, war es eine karge, von der Erosion zerfurchte Ebene, auf der nur einige Palmyra-Palmen Schatten boten. Die Pioniere hatten am Anfang nur wenig zu essen, Trinkwasser musste kilometerweit herangeschleppt werden. Nur ihrer geduldigen, hartnäckigen Arbeit war es zu verdanken, dass auf der sonnenverbrannten Ebene langsam wieder Wald heranwuchs.
Heute gilt die Wiederherstellung des ursprünglichen Waldes als einer der grossen Erfolge von Auroville. Dies erklärt auch, warum der Widerstand gegen den Strassenbau so gross ist. Als die Regierung im Dezember 2021 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion begann, mit Bulldozern eine Schneise in den Wald zu schlagen, gehörte Frederick zu jenen, die sich ihnen entgegenstellten. Der Deutsche, der lange als informeller Bürgermeister von Auroville galt, ist seither Persona non grata.
Von der Leitung der Gemeinde, die er über fünfzig Jahre mit aufgebaut hat, ist er nicht mehr gelitten. Auch sein Visum hat er verloren. Doch der hochgewachsene Mann, der trotz seinem Alter noch immer mit dem Motorrad über die Sandwege kurvt, nimmt es gelassen. Er hat schon andere Konflikte in Auroville erlebt – in den siebziger Jahren etwa, als sich die Pioniere einen erbitterten Streit mit der Leitung des Aurobindo-Ashrams in Pondicherry um die Kontrolle von Auroville lieferten.
Das Utopia ist von Perfektion weit entfernt
Sie hätten über die Jahre vieles erreicht, sagt Frederick, der als Einziger bereit ist, sich mit seinem wahren Namen zitieren zu lassen. Die ökologische Landwirtschaft etwa, die anthroposophischen Schulen und die innovative Architektur, die trotz dem tropischen Klima ohne künstliche Kühlung auskomme. Aber Auroville sei weit davon entfernt, perfekt zu sein, sagt er. Die Stadt sei als Labor angelegt, und da müsse man auch damit leben, dass Experimente scheiterten.
Für Frederick bleibt die Frage, wie sich die Selbstverwaltung so gestalten lässt, dass es möglich ist, wichtige Entscheidungen als Gemeinschaft zu treffen. Bisweilen seien sie träge geworden, und manches sei wegen des Konsensprinzips nur noch langsam vorangekommen, sagt Frederick. Vielleicht sei der Schock notwendig gewesen, um alle aufzurütteln.
Wie es nun weitergeht, ist offen. Die Amtszeit von Jayanti Ravi ist offiziell im Sommer abgelaufen, noch hat die Regierung keinen Nachfolger benannt. Einige Einwohner schöpfen bereits wieder Hoffnung, doch hat der Konflikt Spuren hinterlassen – im Wald um das Matrimandir, aber vor allem in der Gemeinschaft. Am Ende werde es in dem Konflikt keine Gewinner geben, sagt Frederick. Das Wichtigste sei nun, wieder zueinanderzufinden. So bleibt die Stadt der Morgenröte ein Experiment, eine Stadt im permanenten Prozess des Entstehens.
* Name von der Redaktion geändert.