Manche Menschen geraten ausser sich, wenn jemand neben ihnen einen Apfel isst oder mit den Fingern trommelt. Sie leiden an Misophonie, hassen also Geräusche. Die Störung breitet sich im Netz aus.
Das Schlürfen des Partners morgens beim Kaffee, sein Trinken in kleinen Schlucken. Im Büro hämmert der Kollege auf die Tastatur. Der Typ im Tram zieht die Nase hoch. Im Kino ist man von Rascheln umzingelt. Man muss sich zusammenreissen, um nicht «Aufhören!» zu rufen und schreiend hinauszulaufen.
Das Leiden, das sich gerade ausbreitet, in den sozialen Netzwerken, aber auch ausserhalb davon, heisst Misophonie, übersetzt als Hass auf Geräusche. Auf Instagram und Tiktok gibt es Trigger-Tests, mit denen man sich, falls man sie besteht, eine Diagnose geben kann. Zähne, die in einen saftigen Melonenschnitz beissen, die schmatzenden Lippen eines sich küssenden Paars.
In seriösen Medienberichten erzählen Betroffene, dass sie selbst das leise Atmen des anderen nicht mehr aushielten und aus dem Ehebett ausgezogen seien. Manche ertragen es sogar nicht mehr, sich beim Einschlafen selber atmen zu hören.
Das klingt neurotisch, aber mit dieser Deutung ist niemandem geholfen, der am liebsten die Luft anhalten würde, um sich nicht beim Existieren zu stören. Es ist jedoch schon auffällig: Wie so oft hat das weitverbreitete Leiden erst mit der Benennung des Leidens begonnen, das jetzt alle haben wollen und wahrscheinlich fast alle in irgendeiner Ausprägung haben – je nach Robustheit des Nervenkostüms.
Die Sehnsucht nach der Diagnose
Der Begriff Misophonie wurde erst in den letzten zehn Jahren geläufig. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wird die Geräuschempfindlichkeit neurowissenschaftlich erforscht. Handelt es sich um ein zwanghaftes Verhalten? Ist es ein Ohrenproblem? Und wieso geht Misophonie oft mit Autismus einher, der immer häufiger diagnostiziert wird?
Man nennt sich heute neurodivers, befindet sich irgendwo auf dem Spektrum, was bedeutet, dass man die Abweichung als Variante der Normalität versteht. Misophonie fehlt als Diagnose in den beiden wichtigsten Handbüchern zur Klassifikation psychischer Störungen, ihre Aufnahme in das ICD-11 wird aber geprüft. Betroffenen läge daran, da ihr Leiden somit anerkannt würde.
Das wäre dann noch eine Diagnose mehr im Meer von Diagnosen, die das moderne Leben nötig macht. Dabei haben die monotonen klackenden, tickenden, knisternden, surrenden, tropfenden, schnaufenden Geräusche die Menschen schon immer gequält, seit es Uhren, Popcorn, Wasserhähne oder eben Menschen gibt. Natürlich wird die Welt auch immer lauter.
Man hat jetzt zwar einen Namen und vielleicht bald eine Diagnose, das erklärt aber noch nicht die Ursachen. Misophonie ist das Symptom, das nach Deutung verlangt. Interessant ist, dass es oft nahestehende Menschen sind, deren Geräusche zur Folter werden, so dass man sich nur noch mit Kopfhörern an den Familientisch setzt, um das Schmatzen der Mutter zu übertönen.
Hart geprüfte Liebe
In einem ausführlichen Wissenschaftsartikel über Misophonie beschreibt das «New York Magazine» solche Situationen. Im Text mit dem Titel «Die Hölle ist das Kauen anderer Menschen» sagen zwei Leute unabhängig voneinander, sie hätten sich von ihrem Ex-Partner auch wegen dessen Geräuschemissionen scheiden lassen.
Andere wollen kein Beziehungsproblem darin sehen, dass die Geräusche desjenigen, mit dem sie Tisch und Bett teilen, bei ihnen so viel Wut und Verzweiflung triggern. Sie sind aber angewiesen auf die Rücksichtnahme ihrer Nächsten. Ein Mann sagt, er gehe in den Keller essen, um seine geräuschsensible Frau zu schonen. Sonst aber sei die Ehe glücklich und gesund.
Was klar ist: Seit Misophonie so im Gespräch ist, hören die Leute immer besser, um sich dann an jedem Geräusch zu stören. Das Wissen über das Leiden kann die Symptome verschlimmern. Oder wie es eine selber betroffene Psychologin sagt: «Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser wäre, wenn ich das Wort nicht kennen würde.»