Überbordende Vorschriften stehen Fortschritt und Wohlstand im Weg. Zum Glück gibt es jetzt einen beispiellosen Konsens für Deregulierung. Er muss auf die richtige Art genutzt werden.
Die Welt ist gespalten und zerrissen, nicht erst seit Trump. Doch in einer Sache sind sich viele Bürger und Unternehmen einig: Der staatlich verordnete Papierkram wächst ihnen über den Kopf. Landauf, landab wird Deregulierung gefordert. Der Ruf nach einem Abbau von öffentlicher Bürokratie und Verwaltung dürfte mehr Anhänger haben als jede altgediente Religion. Verständlich. Wer je durch den Katalog Schweizer Bauvorschriften oder deutscher Steuererläuterungen blätterte, wünscht sich einen neuen Rachegott.
Es gibt Kandidaten für die Rolle des Erlösers; manche verehren sie gar wie Kultführer. Zuvorderst Argentiniens Präsidenten Javier Milei, der im Jahr 2023 mit der symbolischen Kettensäge auszog, um das Staatsdickicht zu lichten und sein Land aus der Wirtschaftskrise zu führen. Milei begeistert auch Menschen gesetzteren Gemüts, unter ihnen Ökonomen. Und wohl alle Zeitgenossen, die sich von Deckeln von EU-Plastikflaschen, die sich nicht vom Flaschenhals trennen lassen, vor die Nase und den Kopf gestossen fühlen.
Zeitenwende: Selbst Frankreich will weniger Regeln
Noch brachialer als Milei gebärt sich Elon Musk, um in der amerikanischen Verwaltung aufzuräumen. Musk richtet damit zwar grossen Schaden an, wird aber verstohlen für seine zupackende Art bewundert. Vor allem im Kontrast mit der EU, die auch wieder einmal das Streichen von Regulierungen geschworen hat, aber in der Vergangenheit nicht mit Erfolgen glänzen konnte.
Auch im deutschen Wahlkampf war Bürokratieabbau ein Dauerthema. Selbst Frankreich ist dafür. Präsident Emmanuel Macron forderte bereits im Herbst 2024, das Land brauche eine Agenda der Vereinfachung, eine Pause der Regulierung, bei einigen Themen – mon dieu! – sogar eine Deregulierung. Wenn die staatsgläubigen Franzosen weniger Staat wollen, dann ist wahrlich etwas faul im Staate.
Tatsächlich: Die Regulierung wächst, überall und unbestritten. Das kostet die Menschen Zeit und Geld – Ressourcen, die insbesondere in einer strukturell schwach wachsenden Wirtschaft wie der europäischen möglichst sinnvoll verwendet werden sollten. Weil immer mehr Regeln überwacht werden müssen, wachsen auch die Verwaltungen. Diese Stellenprozente müssen ebenfalls finanziert werden, tragen aber nichts Produktives zur Wirtschaft bei.
Doch leider ist es schwieriger, Regulierungen zu kürzen, als sie zu erweitern. Es ist wie bei dem Geschicklichkeitsspiel Jenga, einem Turm aus Holzklötzchen. Die Herausforderung liegt darin, Klötzchen herauszuziehen, ohne dass der Turm zusammenbricht. Gute Statiker sind gefragt.
Es geht nicht ohne Regeln
Die Welt braucht Regulierungen und Vorschriften. Zumindest manche. Zum Beispiel zur Kontrolle von Fusionen und Übernahmen: Entstehen zu grosse Unternehmen, die durch ein Monopol den Markt dominieren, verlangen sie von den Kunden zu hohe Preise. Oder Produktvorschriften für Elektrogeräte. Es ist wichtig, dass die Wohnung nicht abbrennt, wenn man versehentlich die Kochplatte anlässt.
Regulierung gibt Sicherheit, sei es ganz praktisch beim Herd oder in Form von Erwartungssicherheit für Unternehmen. Sie wissen, dass nicht das Recht des Stärkeren entscheidet. Zudem vereinfacht Regulierung Abläufe, weil sie sie standardisiert. Das senkt Kosten: Der Welthandel nahm so richtig Fahrt auf, als der 20-Fuss-Container Ende der 1960er Jahre als Normalfall festgelegt worden ist.
Dass die Vorschriften inzwischen überhandnehmen, ist zum Teil die Folge des Fortschritts. Neue Produkte verlangen neue Regeln, etwa zur Brandsicherheit der Batterien von Elektroautos. Zugleich werden die Produkte immer vielfältiger und die Auswahl grösser. Neue Anliegen schaffen neue Auflagen – man denke an Vorschriften zur Bekämpfung des Ausstosses von Treibhausgasen. Vor 20 Jahren hat das Klima wenig interessiert. Oder zur Gleichstellung von Frauen. Das jüngste Beispiel sind Regeln für künstliche Intelligenz (KI).
Umso wichtiger ist es, Regulierungen zu streichen, die nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind. Ein Klassiker ist das verbreitete Verbot für Läden, am Sonntag zu öffnen. Aber schon solche Liberalisierungen sind oft zu viel verlangt von Behörden und Gesetzgebern. Neue Freiräume sind für sie ein potenzielles Risiko. Doch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Ohne Freiräume kann sich nichts bewegen, und eine Wirtschaft lebt von Bewegung.
Eine Kettensäge ist nichts ohne einen Plan
Regulierung schafft zwar Fairness, aber ihre Einhaltung kann unfair sein. Compliance verursacht Kosten. Konzerne haben tiefere Taschen, aus denen sie den Aufwand leichter bezahlen als kleine und mittlere Firmen. Beim Bewältigen von Vorschriften gibt es Grössenvorteile. Darum: Wenn die Grossen etwas an Regulierung ändern wollen, sollte das stets kritisch geprüft werden.
Hingegen werden die Kleinen, die besonders innovativ sein wollen und müssen, um sich einen Platz am Markt zu erobern, durch Regulierung besonders stark belastet. Ihre Wünsche verdienen Vorrang.
Dass Bürokratie die Entwicklung hemmt, macht jetzt sogar linke Vertreter zu Befürwortern einer Deregulierung. Nur die Ziele variieren: Während Liberale die Innovationskraft per se als Wohlstandsquelle hoch gewichten, brauchen Linke Wachstum und Wohlstand als Grundlage für den expansiven Sozialstaat. Doch um mehr zu verteilen, muss es mehr zu verteilen geben.
Allerdings wäre es falsch, sich allein von der Brachialgewalt eines Elon Musk inspirieren zu lassen. Denn ausser ihr hat Musk nichts. Javier Milei hingegen hatte nicht nur eine Kettensäge, sondern auch einen Plan. Zum Beispiel, als er das argentinische Zollsystem radikal vereinfachte, um Importhürden abzubauen. Daraufhin nahmen die Einfuhren stark zu, der Inflationsdruck sank.
Bürokratieabbau braucht Bürokraten
Die Ironie: Um Bürokratie abzubauen, geht es nicht ohne Bürokraten. Solche, die mit Sachkenntnis erarbeiten, welche Regeln gestrichen und vereinfacht werden können – und solche, die währenddessen den Laden am Laufen halten. Die Unsicherheit eines regulatorischen Vakuums, wenn Regeln en bloc gestrichen werden, kann ebenso lähmend sein wie ein Stillstand, wenn keine Beamten mehr da sind, um Anträge zu bewilligen. Musk spielt mit dem Feuer.
Aber wie soll gute Regulierung aussehen? Es gibt ein paar Prinzipien: Sie sollte transparent, vorhersehbar, flexibel und verhältnismässig sein. Das senkt die Kosten, sie einzuhalten. Die Vereinfachung von Vorschriften ist ein Hebel, an dem guten Gewissens auch der ansetzen kann, der eine Kettensäge scheut.
Vor allem sollten die Vorschriften notwendig sein. Wenn sich ein Problem überall stellt, vermeidet eine übergreifende Regulierung einen Flickenteppich. Wo ein Problem nicht existiert, braucht es auch keine Vorschrift. Klingt banal, wird aber oft ignoriert: Die EU hat dem deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern vorgeschrieben, eine Seilbahnordnung zu erlassen. Es gibt dort keine Seilbahnen; die höchste Erhebung misst 179 Meter.
Oft ist es effizienter, das Ergebnis einer Regulierung vorzuschreiben und nicht den detaillierten Weg, mit dem das Ergebnis erreicht werden soll. Dieser Paradigmenwechsel findet immer mehr Anhänger. Zum Beispiel sollte man einer Branche ein Ziel zur Senkung ihrer Treibhausgasemissionen vorgeben, aber nicht den Technologiemix, mit dem das Ziel zu erreichen ist. Markt und Anreize können diesen Mix viel besser bestimmen, obendrein mit weniger Aufwand sowohl für die Verwaltung wie auch die Compliance.
Ebenso sinnvoll ist, Dinge nach Risiken zu sortieren und nur jene strenger zu regulieren, bei denen mehr schiefgehen kann. Aber auch dabei kann viel schiefgehen: So erlässt Brüssel bei der hoch umstrittenen KI-Regulierung zwar Auflagen nach Risikokategorien. Aber es bleiben umfangreiche Dokumentationspflichten für die Firmen. Das könnte sie abhalten, sich an innovativen KI-Anwendungen zu versuchen.
Transparenz statt Eingriffe
Besser ist alles, was die Transparenz stärkt: So verlangt die EU, den Einsatz von KI in sensiblen Bereichen klar zu kennzeichnen. Das ist gerechtfertigt. Transparenzpflichten sollten Vorrang haben vor staatlichen Eingriffen – dann können Unternehmen und Bürger selbst entscheiden, was sie bevorzugen.
Hier liegt das Potenzial der Schweiz: Der reflexhafte Widerstand gegen Regeln und das Misstrauen gegen eine intervenierende Obrigkeit sind lobenswert. Sie bieten die Chance, bei Regulierungen mit unaufgeregtem Pragmatismus zu glänzen. Doch leider mag auch der Schweizer Vorschriften, die ihm einen Vorteil geben, selbst wenn ihn die Sache nur am Rande betrifft: Das zeigt das umfangreiche Einspruchsrecht im Bausektor. Das Ergebnis sind nicht nur langweilige Gebäude, sondern zu wenige.
Da lässt sich sogar von Deutschland Pragmatismus lernen: So will die Stadt Hamburg ihre Baustandards entschlacken, um die Kosten für Neubauten zu senken. Zum Beispiel muss der Trittschall auf Balkonen und Dachterrassen nicht mehr gedämmt werden. Bedingung ist, dass der Bauherr und der künftige Bewohner sich darauf einigen – aber nicht der Nachbar.
Es brauchte einen Notstand am Hamburger Wohnungsmarkt, um den Menschenverstand siegen zu lassen. Das ist nicht ungewöhnlich: Reformen fallen in Krisen leichter. Argentiniens Wirtschaftskollaps lieferte den Sprit für Mileis Kettensäge. Zwingend nötig sind die Krisen aber nicht. Das ist das Beste, was man vom irrlichternden Elon Musk lernen kann: Mit Deregulierung und Bürokratieabbau lässt sich jederzeit anfangen. Am besten sofort.