Die Zahlungsmoral in der Schweiz ist gut. Doch manchmal erleben Wirte die abenteuerlichsten Geschichten.
Am 14. März 2024 geht Ute Meritz auswärts essen. Mit dem Restaurant des Hotels Radisson Blu in der Nähe des Flughafens Zürich hat sie sich dafür ein gediegenes Lokal ausgesucht. Sie macht es sich gemütlich und ordert nacheinander insgesamt acht Flaschen Bier, eine Coca-Cola, einen Caesar-Salad und etwas Brot.
Doch Ute Meritz, die in Wirklichkeit anders heisst, trägt bloss 50 Franken auf sich – zu wenig, um die Rechnung über 122 Franken begleichen zu können. Als es ums Zahlen geht, wird das Personal daher misstrauisch und ruft die Polizei.
Später stellt sich heraus: Die 62 Jahre alte deutsche Staatsbürgerin hätte sich gar nicht im «Radisson Blu» aufhalten dürfen, weil sie dort seit 2017 Hausverbot hat. Meritz wird wegen Hausfriedensbruchs und geringfügiger Zechprellerei per Strafbefehl verurteilt.
Diesen und zwei weitere Strafbefehle hat sie angefochten. Deshalb kam es am Dienstag vor dem Bezirksgericht Bülach zu einer aussergewöhnlichen Verhandlung.
Vor Gericht wegen fehlender Bankverbindung
Nachdem sie zwei frühere Gerichtstermine hat verschieben lassen, wird Ute Meritz am Dienstag von der Kantonspolizei in den Gerichtssaal geführt. Bei ihrem Auftritt erweckt sie den Eindruck, nicht viel für die Justiz übrig zu haben: Sie spricht ohne Aufforderung und lässt sich von der Richterin nicht unterbrechen.
Dafür, dass ihr Strafregisterauszug sagenhafte 31 Seiten und 43 Vorstrafen umfasst, hat Meritz bloss einen Scherz übrig: «Man könnte mich wohl für eine Terroristin halten.» Dabei sei sie in Wahrheit «eine anständige Frau», deren Existenz man zu ruinieren versuche.
Als sie im Restaurant des Viersternhotels Radisson Blu ihre Bestellung aufgegeben habe, habe sie sich «sehr wohl» gefühlt. Es handle sich um ein gutes Lokal, das sie uneingeschränkt empfehlen könne. Sowohl die Speisen als auch das Personal seien ganz nach ihrem Geschmack.
Schliesslich macht Meritz geltend, dass gesunde Ernährung ein Menschenrecht sei – und Heineken ihr liebstes Bier. Und dagegen, dass sie sich ein paar angenehme Stunden habe machen wollen, sei doch nichts einzuwenden.
Die Unterstellung der Strafbefehle, sie habe gar nie die Absicht gehabt, die entstehende Rechnung zu begleichen, kontert sie mit einem Vorwurf: «Ich wollte eine Anzahlung leisten und den restlichen Betrag später überweisen», sagt sie.
Aber: Ihr sei von dem Hotel eben keine Bankverbindung mitgeteilt worden. Allein deshalb stehe sie nun vor Gericht.
Mit dem Boot geflohen statt gezahlt
Dass Gäste wie Ute Meritz üppige Bestellungen tätigen und dann nicht zahlen, ist in der Schweiz rar. Das Bundesamt für Statistik zählt für das Jahr 2023 landesweit bloss 380 Fälle von Zechprellerei – allerdings dürfte es etliche weitere Fälle geben, die nie zur Anzeige kommen.
Gelegentlich steckten Zürcher Wirte einander die Namen von unliebsamen Gästen zu, sagt Florian Ilmer, der Geschäftsführer des «Gartenhofs» in Zürich Wiedikon. Einen formellen Austausch über das Thema gebe es aber nicht. Das sei angesichts der «insgesamt sehr guten» Zahlungsmoral nicht nötig.
Auch in den Restaurants von Michel Péclard und Florian Weber zahlen die allermeisten Gäste. Es sei aber schon zu aufsehenerregenden Szenen gekommen, sagt Weber. Einmal habe ein Gast im Restaurant Mönchhof, statt die Kreditkarte zu zücken, die Flucht ergriffen – mit seinem Boot.
Das wollte der Geschäftsführer des «Mönchhofs» nicht auf sich sitzen lassen. Er alarmierte die Seepolizei, die umgehend die Verfolgung des flüchtigen Gastes aufnahm. Als dieser schliesslich gefasst war, stellte sich heraus, dass er lediglich für vier Getränke hätte aufkommen müssen.
Es habe dem Gast schlicht die Geduld gefehlt, auf den Kellner zu warten, sagt Weber: «Darüber haben wir noch lange gelacht.»
Sogar Lautsprecherboxen kommen weg
Mehr als mit Zechprellerei hätten die Zürcher Lokale mit Diebstählen zu kämpfen, sagt Florian Ilmer. Dabei spricht er aus eigener Erfahrung: In seinem Betrieb werde immer wieder gestohlen. Deshalb müsse er in regelmässigen Abständen neue Pfeffermühlen oder Aschenbecher anschaffen.
«Über eine Sommersaison im Garten verschwindet immer wieder mal etwas», sagt Ilmer.
Auch in ihren Lokalen liessen die Gäste allerlei mitgehen, bestätigt Florian Weber. In der Rooftop-Bar im Modissa-Haus an der Bahnhofstrasse sei kürzlich sogar eine Lautsprecherbox abgeschraubt worden – und zwar drei Mal nacheinander. Mit dem Resultat: «Jetzt gibt es auf der Toilette halt keine Musik mehr.»
Was können die Gastronomen gegen plündernde Gäste tun? «Wir haben uns jahrelang wie verrückt über stehlende Gäste geärgert», sagt Weber. Aber dann habe man einsehen müssen, dass man den Dieben ausgeliefert sei.
Statt sich darüber zu ärgern, will Weber die Ruchlosigkeit der Gäste zu seinem Vorteil nutzen. Vor einigen Jahren habe man deshalb begonnen, möglichst viele Gegenstände mit dem Namen des Restaurants und der Telefonnummer zu versehen. «Wenn die Leute schon eine Vase von uns zu Hause haben, sollen sie wenigstens wissen, unter welcher Nummer sie reservieren können.»
100 Tage Freiheitsstrafe gefordert
Neben der nicht bezahlten Mahlzeit im «Radisson Blu» sieht sich Ute Meritz vor Bezirksgericht auch mit den Vorwürfen der unerlaubten Einreise und des unerlaubten Aufenthalts in der Schweiz konfrontiert. Gegen sie galt ab November 2023 ein einjähriges Verbot der Einreise in die Schweiz.
In den Strafbefehlen beschreibt die Staatsanwaltschaft die Frau als notorische Wiederholungstäterin, die mit Geldstrafen nicht zur Räson zu bringen sei – und deshalb ein weiteres Mal ins Gefängnis verbracht und ausgeschafft gehöre.
Kumuliert sehen die Strafbefehle für die Zechprellerei, die unerlaubte Einreise und den unerlaubten Aufenthalt in der Schweiz eine Bestrafung von 100 Tagen Freiheitsstrafe sowie eine Busse von 900 Franken vor.
Doch davon wollen die Beschuldigte und ihr Verteidiger bei der Verhandlung in Bülach nichts wissen. In seinem Plädoyer erläutert der Verteidiger, dass seine Klientin gegen alle früheren Gerichtsentscheide und gegen das Einreiseverbot Rekurs eingelegt habe.
Sie sei als juristische Laiin davon ausgegangen, dass das Einreiseverbot erst nach einem Gerichtsurteil gültig werden würde – und dass sie sich in der Zwischenzeit frei bewegen könne.
Die Beschuldigte will 650 000 Franken
Weil deshalb kein Vorsatz bestanden habe, sich illegal in der Schweiz aufzuhalten, und weil Meritz beabsichtigt habe, ihre Mahlzeit im «Radisson Blu» später zu zahlen, forderte der Strafverteidiger einen vollumfänglichen Freispruch.
Ausserdem sei seiner Mandantin eine «angemessene Entschädigung» zu zahlen. Wie hoch eine solche Entschädigung auszufallen hätte, davon hat Meritz klare Vorstellungen: Sie fordert vom schweizerischen Staat für die bereits in Haft verbrachte Zeit und die Unannehmlichkeiten aller Gerichtsverfahren insgesamt 650 000 Franken.
Doch die Richterin hält Meritz’ Rechtfertigungen für unglaubwürdig – und ihre Forderungen für unberechtigt.
Sie spricht Meritz schuldig und legt eine Freiheitsstrafe von 110 Tagen und eine Busse von 300 Franken fest. Aufgrund der zahlreichen Vorstrafen muss die Strafe abgesessen werden.
Ute Meritz kündigt noch im Gerichtssaal an, dass sie Berufung einreichen werde.