Als Soldat wurde er schwer verwundet, danach verfiel Hari Budha Magar dem Alkohol. Heute will der Bergsteiger Menschen mit Beeinträchtigungen ermutigen, ihre eigenen Träume zu verwirklichen.
Am 17. April 2010 hat sich Ihr Leben verändert. Was ist damals passiert?
Ich war mit den Royal Gurkha Rifles der britischen Armee auf einer Fusspatrouille in Afghanistan unterwegs, als es plötzlich laut knallte. Wie mir später erklärt wurde, bin ich auf einen «improvisierten Sprengsatz» getreten.
Das klingt furchtbar.
Mein rechtes Bein habe ich gar nicht mehr gesehen, mein linkes baumelte am Rest des Körpers. Mein Glück war, dass der Sprengsatz nicht vollständig explodierte, sonst hätte es mich komplett zerfetzt, und ich wäre gestorben.
Was geschah danach?
Meine Truppe hat tolle Arbeit geleistet. Die Kameraden gaben mir die Möglichkeit, mein Leben noch einmal neu zu leben.
Was heisst das?
Amerikanische Spezialeinheiten flogen mich sofort mit einem Helikopter aus. Sie brachten mich zunächst in ein Feldlazarett in Camp Shorabak, dann zur Balad Air Base. Das sind beides Orte in Afghanistan. Dort wurde ich drei Mal operiert, in England zwei weitere Male.
Wie lange waren Sie im Krankenhaus?
Zuerst wurde ich fünf Tage schwer verletzt durch die Welt geflogen, dann war ich fast einen Monat lang im Spital, danach weitere dreieinhalb Jahre in der Reha.
Sie sagten einst, der beste Job für einen Nepalesen sei, beim Militär zu arbeiten. Weshalb ist das so?
Bei uns in Nepal gibt es nicht viele Möglichkeiten, Geld zu verdienen. Aber wir können vier verschiedenen Armeen beitreten: der britischen Armee, den indischen Streitkräften, ebenso denen von Brunei und der Polizei von Singapur. Die Soldaten heissen allesamt «Gurkhas». Das meiste Geld erhält man aber bei der britischen Armee.
Ein guter Job?
Ja, und zwar aus zwei Gründen. Zum einen können wir uns in Grossbritannien niederlassen. Zum anderen ist das Gehalt eines Soldaten in der britischen Armee höher als das des nepalesischen Ministerpräsidenten.
Während der Reha in England ging es Ihnen schlecht. «Ich fühlte mich schlecht, begann zu trinken», steht auf Ihrer Website dazu.
Das war ein Teufelskreis. Trank ich, weil ich depressiv war? Oder wurde ich depressiv, weil ich trank? Fest stand damals nur eines: Ich benutze den Alkohol, um mit meinem Schmerz, meinen Emotionen fertigzuwerden. Mein einziger Freund war damals der Whiskey. Ich war in jener Zeit leider kein guter Vater.
Welche Rolle spielen Ihre Frau und die drei Kinder heute in Ihrem Leben?
Hätte ich sie nicht gehabt, wäre ich tot. Nicht nur mein Leben wurde durch die Bombenexplosion beeinträchtigt, sondern auch das meiner Familie. Ich konnte ja selbst die einfachsten Sachen nicht mehr machen. Fussball spielen mit meinem Sohn? Unmöglich. Ich erinnere mich an einen besonderen Tag, als mein Sohn dreijährig war und er mich mit seinem süssen Gesicht anblickte. Da wurde mir klar, dass ich mit dem Trinken aufhören muss. Damals sagte ich mir: «Ich muss alles unternehmen, damit meine Familie wieder stolz auf mich ist.»
Haben Sie sich in jener Zeit Hilfe von Psychologen geholt?
Viel zu spät.
Warum?
Ich dachte lange: «Ich bin ein Gurkha, ein Soldat, ich bin stark!» Dann sah ich aber doch ein, dass ich Hilfe benötige. Die Ärzte attestierten mir eine posttraumatische Belastungsstörung. Das Schönste ist aber, dass es selbst dann, wenn es einem Menschen, wie mir damals, nicht gutgeht, immer noch ganz viele Leute gibt, die einem helfen. In meinem Fall waren das zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen.
Irgendwann haben Sie die Kurve gekriegt. Später sind Sie in einem Schlitten die Skipisten hinuntergedonnert, mit dem Fallschirm aus Flugzeugen gesprungen. Fühlen Sie sich als Extremsportler?
Nein, ich bin ein leidenschaftlicher Bergsteiger und Abenteuer-Fan.
Ein Adrenalin-Junkie?
Eher ein vernünftiger und verantwortungsbewusster Typ. Was ich mache, tue ich nicht nur für Ruhm, Geld oder Ehre. Ich mache das, weil ich denke, dass es unbedingt notwendig ist, anderen Menschen zu helfen, sie zu inspirieren.
Sie haben als erster Mensch ohne Beine den Mount Everest bestiegen. Haben Sie nie Angst?
Ich bin nicht bereit, zu sterben und meine Familie und meine Freunde im Stich zu lassen, und bin mit mir im Reinen. Ich habe zwar diesen fürchterlichen Unfall erlitten, in meinem Leben dafür aber viel mehr erreicht, als ich mir jemals hätte erträumen können. Nun bin ich eben da, um das Bewusstsein für Beeinträchtigungen zu schärfen. Ich hoffe, dass meine Erfolge auf den höchsten Bergen der Welt andere Menschen dazu ermutigen, ihre eigenen Herausforderungen zu meistern und ihre Träume zu verwirklichen.
Sie sagen immer wieder, eine Beeinträchtigung müsse ein Leben nicht unbedingt einschränken.
Was uns einschränkt, ist der Verstand, nicht der Körper. Wenn wir laufen können, tun wir das. Wenn wir hingegen nicht laufen können, dann suchen wir uns eben andere Möglichkeiten, wie wir die Fortbewegung hinbekommen. Dann kriechen wir eben, ist doch nicht schlimm! Und sonst rollen wir. Und wenn wir auch das nicht können, verwenden wir unseren Verstand, um etwas zu erfinden, mit dem wir dort hinkommen, wo wir hinwollen.
Wie können Sie immer so positiv sein?
Die Frage ist falsch formuliert.
Wie meinen Sie das?
Ich frage Sie: Wie kann man immer so negativ sein? Im Ernst: Das frage ich die Menschen, die ich treffe, sehr oft. Viele auf dieser Welt haben die Wahl, wie sie ihr Leben gestalten möchten. Ich wurde in einem Kuhstall in Nepal geboren, ging barfuss zur Schule, lernte mit Kreide auf einem Holzbrett schreiben, wurde mit elf Jahren zwangsverheiratet, wuchs im Bürgerkrieg auf. Einige Menschen haben in ihrem Leben keine Wahl. Ich gehörte dazu, habe die Möglichkeiten, die sich mir boten, aber trotzdem genutzt.
Sie sagten einst, als Bergsteiger ohne Beine müsse Ihr Oberkörper besonders stark sein. Beim Klettern benutzen Sie Ihre Arme, um sich den Berg hinaufzuziehen und über Stellen hinwegzukommen, die für Sie mit den Beinprothesen schwierig sind. Wie sieht Ihr Training für die höchsten Berge aus?
Ich gehe jeden Tag zwei bis drei Stunden ins Fitnessstudio, mein Training ist eine Mischung aus Fitness, Schwimmen, Sauna und Eisbaden. Ich trainiere viel Ausdauer, mache viel Krafttraining, Yoga, Meditation.
Wie gross ist Ihr Team am Berg?
Das hängt vom Berg ab. Mindestens vier, maximal sechsundzwanzig.
Sind Sie dabei immer am Seil?
Sie machen sich völlig falsche Vorstellungen von meinen Besteigungen. Mich hievt da niemand hoch, ich werde von niemandem hochgetragen.
Aber Sie sind auf fremde Hilfe angewiesen, richtig?
Nein.
Was können Sie in eisigen Höhen im Vergleich zu Menschen mit Beinen nicht so gut?
Der Unterschied zwischen mir und anderen Bergsteigern ist, dass ich nicht so schnell gehen und in manchen Situationen nicht so schnell reagieren kann wie sie. Abgesehen davon bin ich ein ganz normaler Bergsteiger.
Sie wollen als erster Mensch der Welt die «Seven Summits», also den jeweils höchsten Berg auf jedem Kontinent, ohne Beine besteigen. Den Mount Everest haben Sie bereits geschafft, ebenso den Denali in Nordamerika, den Kibo im afrikanischen Kilimandscharo-Gebiet sowie den Montblanc, den höchsten Berg Europas. Wann werden Sie alle sieben Gipfel erklommen haben?
Wenn alles nach Plan läuft, im Januar 2026. Wenn ich mehr Geld zur Verfügung hätte, wäre ich in drei Monaten fertig. Nur habe ich leider nicht so viel Geld.
Welcher Berg war bisher der schwierigste?
Der Mount Everest, der war sehr gefährlich. Ich hätte nicht gedacht, wie viel Sauerstoff man in diesen Höhen verbraucht. Und wenn einem der ausgeht, stirbt man da oben. Allein in der vergangenen Saison, als wir auf den Mount Everest gingen, sind am Berg 17 Menschen gestorben. Umso glücklicher bin ich, dass wir sicher wieder unten angekommen sind. Von 478 Bergsteigern und Bergsteigerinnen waren nur etwa 250 erfolgreich.
Sie haben drei unterschiedliche Aufsätze an Ihren Prothesen für Fels, Eis und Schnee. Wie lange brauchen Sie, um sie am Berg zu wechseln?
Das dauert nur wenige Sekunden, ich bin ein Profi. Das geht fast so schnell wie ein Reifenwechsel in der Formel 1.
Sehen Sie sich selbst als Vorbild?
Ich bin kein Vorbild, ich bin ein Typ ohne Beine, der sein Bestes gibt, um auf Beeinträchtigungen aufmerksam zu machen. Die Beeinträchtigung mag vielleicht unsere Schwäche sein. Das bedeutet aber nicht, dass wir nichts tun können. Es gibt niemanden auf der Welt, der perfekt ist. Wir alle haben unsere Schwächen.
Nicht jeder Mensch, der körperlich eingeschränkt ist, steigt auf die höchsten Gipfel.
Wenn die eigene Mission grösser ist als man selbst, muss man keine Angst haben vor dem, was man erreichen will. Andererseits sagen viele meiner Freunde: «Hari, du bist nicht verrückt, du bist super verrückt.»
Sie wollten den Mount Everest bereits vor Jahren besteigen. Doch 2018 beschloss die nepalesische Regierung, keine Genehmigungen an Menschen mit beidseitiger Beinamputation und Blinde auszustellen. Fühlten Sie sich dadurch diskriminiert?
Selbstverständlich. Man kann Menschen nicht einfach etwas verbieten, nur weil sie irgendetwas nicht können oder anders sind. Das ist ja das Stigma rund um Behinderung.
Was haben Sie gemacht?
Wir haben es zuerst mit diplomatischen Mitteln versucht, das hat allerdings nicht funktioniert. So hatten wir keine andere Wahl, als vor dem Obersten Gerichtshof für das Recht zu kämpfen, auf den Mount Everest zu gehen. Eigentlich hätte ich gedacht, dass ich schon 2019 oben stehe. Nun hat es fast sechs Jahre gedauert. Aber das ist egal. Wir haben einfach nicht aufgegeben und immer weitergemacht, bis wir den Gerichtsfall gewonnen haben.
Ein nervenaufreibender Streit.
Erstaunliche Dinge erreichen wir nur, wenn wir sie versuchen. Tun wir es nicht, wissen wir nie, was überhaupt möglich wäre.
Sämtliche grossen Medien haben über Sie berichtet, den vielleicht bekanntesten Bergsteiger der Welt.
Ja, aber es soll nicht um mich gehen, sondern darum, dass wir alle die Welt zu einem Ort machen, an dem Hoffnung, Freude und Optimismus überwiegen. Das ist mein Ziel: eine bessere Welt zu schaffen. Wenn ich heute die Möglichkeit hätte, meine Beine wiederzubekommen, würde ich das nicht wollen.