Der gesellschaftliche Trend zur Neunziger-Nostalgie ist vorbei. Lenny Kravitz ist trotzdem wieder da. Wie der Musiker das Hallenstadion gefüllt hat.
Nach vierzig Minuten geht Lenny Kravitz ein bisschen spazieren. Er schlendert geschmeidig wie ein Raubtier auf der Bühne herum, zwischen seinen drei Gitarren hin und her, zwischen seiner Band. Im Zürcher Hallenstadion gibt der amerikanische Musiker am Donnerstagabend eines der ersten Konzerte auf seiner Europatournee «Blue Electric Lights». Und da fordert er nun Liebe ein.
Dazu stoppt er kurz, streckt die Bust raus, schaut in die Menge. Dann badet er im Gejubel seiner Fans. Manchmal hebt er die dunkle grosse Sonnenbrille und schaut erwartungsvoll ins Publikum. Einmal schmusebrummt er dabei, er verliebe sich jedes Mal, wenn er es anschaue. Auch das Gegenüber empfindet etwas für den Retro-Rocker. Aber ist es noch die grosse Liebe?
Wandelndes Best-of
Er könne weder singen noch spielen, wurde ihm schon attestiert. Die Kritiker aus der Zeit nach seinem Jahrzehnt, den Neunzigern, waren teilweise hart zu dem Musiker, der alle Instrumente selber spielt, dessen Stimme zwischen samtener Schokolade und melodischem Metall angesiedelt ist. Und dessen Lieder zwischen einfühlsamer Ballade und ins Bein schiessendem Rock pendeln, angereichert mit Funk, Soul und Reggae. Er solle sich lieber der Schauspielerei (wie in «Die Tribute von Panem») widmen oder Parfum verkaufen.
Das wäre schade. Der Gesang des 60-Jährigen ist nach wie vor bassig, stark. Man zweifelt an diesem Abend im Hallenstadion nicht daran, dass er mit ihm und dem Album «Let Love Rule» vor 36 Jahren so erfolgreich werden konnte. Er kam zu einer Berühmtheit, die er nie geplant hatte («Ich dachte, ich würde als Jazzmusiker in Klubs spielen», sagte er kürzlich zu «The Times»), die er aber in vollen Zügen genoss («Oh, es war ein Trip»).
Seit 1989 singt Lenny Kravitz übers Verliebtsein, Festklammern oder Verlassenwerden. Seine grossen Hits «Stand by My Woman», «I Belong to You» «It Ain’t Over Till It’s Over» oder «Let Love Rule» drehen sich darum. Ohne Zweifel kennt der 60-Jährige sich mit der Liebe aus. Er war mit der Schauspielerin Lisa Bonet aus der «Bill Cosby Show» verheiratet. Er hatte angeblich Affären mit den Sängerinnen Madonna und Kylie Minogue in den Neunzigern. Er liebte wohl auch Vanessa Paradis und Natalie Imbruglia. Nicole Kidman machte er einen Heiratsantrag. So protokollierten es zumindest die Klatschmedien.
Nach eigenen Angaben lebte er die letzten zehn Jahre aber zölibatär. Bis er jemanden finde, dem er sich voll und ganz widmen könne, «das ist eine spirituelle Sache», sagte er 2024 in einem Interview. Er wurde zudem politischer: 2008 schrieb er einen Song für den Wahlkampf für den nachmaligen US-Präsidenten Barack Obama. Auf seinem Album «Black and White America» (2011), das es auf Platz 1 der deutschen Charts schaffte, thematisiert er die Ungerechtigkeit in der Welt. Der Titelsong prangert den Rassismus seiner Landsleute an. Kravitz’ Vater war ukrainisch-jüdischer Abstammung, seine Mutter Afroamerikanerin mit bahamischen Wurzeln. «I am deeply two-sided», sagte Kravitz einmal. «Schwarz und weiss. Jüdisch und christlich. Manhattan- und Brooklyn-orientiert.»
Aber eigentlich ist es egal, worüber der Rocker singt, alle seine Songs ähneln sich durchgehend. Seine Kunst ist eine Angelegenheit von Konsequenz: eine Wegblendung all dessen, was in der Pop-Musik nach dem Glam-Rock passiert ist. Auch bei seinem 2024 erschienenen Album, das der gegenwärtigen Tour ihren Titel gibt, schöpft er wieder aus der Vergangenheit. Lenny Kravitz ist ein wandelndes Best-of, nämlich eine Mischung aus der Androgynie von Prince, dem Falsett von Curtis Mayfield, den Riffs von Jimi Hendrix und den Liebesbotschaften von John Lennon. Das kombiniert der Musiker, der vielmehr Tempelwächter als genialer Erfinder ist, geschickt und gaukelt uns seit den Neunzigern charmant vor, es sei immer noch 1972.
Hypnotisierend langsam
Wenn der 1 Meter 70 grosse Lenny Kravitz nun in Nahaufnahme eingeblendet ist, hallen «Lenny»-Rufe durch das Hallenstadion. Wenn er die Zuschauer bittet zu klatschen, erfüllen sie ihm den Wunsch. Wenn er sich – beinahe hypnotisierend – langsam bewegt, sich die tief sitzende Schlaghose hochzieht und dabei die Hüften kreist, kreischen ein paar Menschen im Publikum. Das Konzert ist nicht ausverkauft, aber die Halle gut gefüllt.
Das Best-of-Programm – es werden nur drei Songs vom neuen Album präsentiert – spielt er in knapp zwei Stunden routiniert herunter. Ab und an aber blitzt in der Nachstellung einer berechenbaren, perfekten Super-Retro-Rockshow unverhohlene Hybris auf. Als er «The Chamber» anstimmt, sind alle selig. Bei «American Woman» tobt die Menge, die fast nur aus Fans in den Vierzigern besteht. Bei «Fly» stehen sie auf den Rängen.
Zum Finale setzt er seinen Spaziergang fort. Er tritt von der Bühne und ins Publikum, taucht in die vielen Arme. Dabei ruft er immer wieder ins Mikrofon: «Let love rule», und lässt das Publikum die Worte wie ein Mantra wiederholen. Ein langes Outro seines grössten Hits. Währenddessen leert sich das Stadion langsam. Man muss trotz allem auf den Zug oder will, bei aller Liebe, nicht zu lange warten bei der Garderobe. In der Langzeitbeziehung zu Lenny Kravitz hat sich Routine eingeschlichen. Aber es sind noch Gefühle da.