Aschaffenburg, München, jetzt Mannheim: Fast monatlich werden in Deutschland Anschläge verübt – stets mit Messern oder Autos. Der Psychiater Elmar Habermeyer verrät, ob solche Taten Nachahmer inspirieren, die dann zu ähnlichen Methoden greifen.
Herr Habermeyer, können Sie sich die vielen Anschläge mit Autos und Messern erklären? Kann so ein Verhalten andere Menschen anstecken?
Durch die intensive Berichterstattung über die Anschläge werden solche Methoden bekannter gemacht. Das kann dazu beitragen, dass Menschen, die mit dem Gedanken spielen, Attentate zu begehen, genau auf diese Werkzeuge zurückgreifen und die Anschläge nachahmen.
Warum?
Die Bilder vom Anschlag mit dem Mini Cooper auf einen Demonstrationszug in München haben unter anderem die Botschaft transportiert, dass man selbst mit einem kleinen Auto massive Schäden anrichten kann. Das ist fatal, weil bei solchen Anschlägen unterschiedliche Motive eine Rolle spielen. Unter anderem die Absicht, so befremdlich es klingen mag, mit seiner Tat eine möglichst grosse Wirkung zu erzielen. Wenn dann bewiesen ist, dass selbst der Einsatz eines kleinen Pkw so tödlich wirkt, dann ist das für solche Personen ein Argument, ebenfalls diese Methode einzusetzen. Je mehr und je detaillierter solche Informationen zur Durchführung von Anschlägen geliefert werden, desto stärker wird diese Wirkung ausfallen. Ein Nachahmungseffekt wird auch dadurch befördert, dass manche Menschen durch das Vorbild des Attentäters die letzten Hemmungen verlieren.
Können Sie das genauer erklären?
Wir alle haben eine gewisse Hemmschwelle, Gewalt auszuüben. Die Mitteilung, dass andere das getan haben, worüber man selber nachdenkt, kann eine Art Legitimation für die eigenen Taten liefern. Selbstkorrumpierung nennen wir als forensische Psychiater das. Darunter verstehen wir das Phänomen, dass Menschen Dinge, die sie vielleicht vor drei Monaten als völlig illegitim erachtet haben, dadurch legitimieren, dass es andere auch gemacht haben.
Bei Suiziden kennt man ein ähnliches Phänomen – den sogenannten Werther-Effekt. Warum lässt sich der Mensch gerade bei seinen schrecklichen Taten von schlechten Vorbildern inspirieren?
Der gemeinsame Kern der beiden Phänomene ist die ausweglose Situation, in der sich die Betroffenen sehen. Suizid und Fremdaggression sind letztlich zwei Seiten einer Medaille. Manchmal werden sie sogar verknüpft wie bei einem Selbstmordattentat.
Und welcher Faktor entscheidet darüber, ob ich auch andere töten möchte?
Bei der Fremdaggression werden Verzweiflung und Lebensüberdruss durch ein klares Feindbild ergänzt oder eine Ideologie, die ein solches Feindbild liefert. Das können religiöse Motive sein, politische Motive oder auch Verschwörungstheorien. Sie alle taugen als Triebfeder, nach aussen zu agieren.
Welche Rolle spielen das Vorbild und seine Feindbilder?
Eine grosse. Je stärker sich der potenzielle Attentäter mit einem Vorbild identifizieren kann, desto eher wird er oder sie ihn nachahmen. Das gilt auch für das Vorhandensein einer gemeinsamen Gesinnung. Deshalb werden solche Copycat-Attentate begünstigt, wenn über die Person des Täters und seine Motive intensiv berichtet wird. Manche treten sogar in eine Art perversen Wettstreit mit ihrem Vorbild: darüber, wer am effektivsten zuschlägt.
In der Regel handelt es sich momentan um einen bestimmten Typ von Attentäter – Einzelgänger, die keiner Organisation angehören. Sie haben ja den Fall des Norwegers Anders Breivik analysiert und versucht herauszufinden, ob es in seinem Fall Warnzeichen gegeben hat, die man im Vorfeld hätte erkennen können. Was haben Sie entdeckt?
Auffällig ist bei Breivik und ähnlichen Tätern eine hohe Identifikation mit bestimmten Vorbildern. Sie berufen sich auf diese und leiten daraus eine Art Traditionslinie ab. Bei Breivik ging das bis auf die Kreuzritter zurück. Breivik zeigte zudem schon in den Jahren vor dem Anschlag eine zunehmende Besessenheit von seinem Thema, der angeblichen Islamisierung Europas. Er zog sich in den Wochen vor dem Anschlag immer mehr zurück und tweetete kryptische Botschaften. Solches Verhalten kennen wir auch von anderen Gewalttätern.
Anders Breivik wurde nach seinem Anschlag auf ein Zeltlager einer sozialdemokratischen Jugendorganisation für schuldfähig und psychisch gesund erklärt. Bedeutet das: Man muss nicht psychisch krank sein, um solche schrecklichen Taten zu begehen?
Nein, man muss nicht psychisch gestört sein, um schlimme Dinge zu tun. Aber psychische Störungen können die Entscheidung, schlimme Dinge zu tun, begünstigen. Die meisten Menschen, die solche Delikte begehen, sind zum Zeitpunkt ihrer Tat sicherlich nicht beruflich und sozial maximal leistungsfähig. Aber wir sollten uns davor hüten, Personen, die sich in einer massiven Krisensituation befinden und fremdgefährdend agieren, als «krank» zu labeln.
Was allerdings auffällt: Es sind immer wieder psychisch Kranke, die solche Taten begehen. Lassen auch sie sich von den Taten anderer anregen?
Bei Menschen mit einer schizophrenen Erkrankung wird die Grenze zwischen Umwelt und eigener Person sehr durchlässig. Zudem haben sie oft Schwierigkeiten, eine Grenze zwischen sich und den Nachrichten aufzubauen. Sie integrieren manchmal auch politische Debatten in ihr Wahnsystem, vor allem wenn diese sehr zugespitzt geführt werden. Deshalb sind sie viel stärker beeinflussbar oder zu bestimmten Reaktionen ermunterbar als jemand, der sich besser abgrenzen kann und sein Erleben auch kritisch reflektieren kann. Als Gewalttäter werden sie dennoch sehr selten auffällig: Nur einer von 2000 Betroffenen begeht jemals ein Gewaltdelikt. Das Risiko, persönlich einen gewaltbereiten schizophrenen Menschen zu treffen, ist noch viel niedriger: Es liegt bei 1 zu 200 000.
Dennoch: Muss man nicht weitere Anschläge befürchten? Eine Art Dominoeffekt, der sich selbst hochschaukelt? Mehr Anschläge bringen mehr Vorbilder und mehr mediale Aufmerksamkeit mit sich. Und das inspiriert wiederum andere zu Attentaten?
Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich dieses Problem innerhalb der nächsten Wochen von selbst lösen wird. Es kann Monate dauern, bis solche Nachahmungseffekte ihre Wirkung verlieren. Genau deshalb muss man mit der Berichterstattung ausgesprochen zurückhaltend sein.
Leider werden derzeit viele Anschläge mit Waffen verübt, die fast jeder in seiner Reichweite hat: Messer oder Autos vor allem. Senkt das die Schwelle für solche Attacken?
Davon gehe ich aus. Im Moment haben wir mit dem Problem zu tun, dass deutlich geworden ist, wie man mit Alltagsgegenständen massive Effekte erzielen kann. Das hat leider einen gewissen Signalcharakter. Und je mehr herkömmliche Medien und soziale Netzwerke jetzt in ihrer Berichterstattung Autos als Waffen definieren, umso mehr wird dieses Risiko zunehmen.
Was können wir als Gesellschaft noch unternehmen, um solchen Attentaten vorzubeugen?
Wir sollten uns bemühen, in der gesellschaftspolitischen Diskussion nicht den Eindruck zu erwecken, dass eine akute Gefahrensituation besteht. So wie das manchmal in der Debatte um die Zuwanderung zu beobachten ist. Denn wenn labilen Menschen suggeriert wird, dass sich die Gesellschaft in einer Notlage befinde, kann ihnen das als Legitimation dienen, Gewalt einzusetzen.
Sie meinen, dass anfällige Personen für sich zum Beispiel die Botschaft aus der Diskussion ziehen, die Zuwanderung sei eine derart grosse Gefahr, dass im Kampf dagegen mehr oder weniger alle Mittel erlaubt sind?
Ja. Schwierig wird es auch, wenn sich öffentliche Debatten radikalisieren und andere Personen oder Gruppen abgewertet werden. Solche radikalisierten Debatten sind für empfängliche Menschen ein Einfallstor für Aggressionshandlungen.