Grönland hat genug – von Dänemark, von Trump und von den Journalisten, die seit Wochen nach Nuuk stürmen. Eine Abrechnung in drei Akten
Jörgen Boassen ist wohl der meistgehasste Mann in Grönland. Seit Boassen im Januar den Sohn des amerikanischen Präsidenten Donald Trump auf die Insel eingeladen hat, herrscht in Grönland Ausnahmezustand. Hunderte Journalisten aus aller Welt machen Telefonterror, klopfen an Türen und halten Passanten Mikrofone unter die Nase. In Nuuk hat kaum mehr jemand Lust auf ein Interview – bis auf einen: Jörgen Boassen.
Boassen ist fünfzig Jahre alt und eigentlich Maurer. Jetzt sitzt er in einem Café in Grönlands Hauptstadt Nuuk, umringt von ausländischen Journalisten, und referiert über Geopolitik («Putin ist wütend, weil die Nato ihn provoziert»), erzählt von Trumps Wahlfeier in Palm Beach («Wir fuhren mit einer grossen Limousine, ich traf viele Milliardäre») und wettert über Dänemark («Die Ministerpräsidentin ist verrückt, sie will einen Krieg anzetteln»).
Auf Boassens T-Shirt prangt das Antlitz von Donald senior, darüber in grossen rosaroten Buchstaben «Thug Life» – «Gangsterleben». Für Boassen ist Trump kein Verbrecher, sondern ein Held. Er glaubt, dass «Mr. Trump» den dritten Weltkrieg abwenden und eine neue Weltordnung schaffen kann. Eine, von der auch Grönland profitieren könnte.
Boassen ist mit seiner Meinung weitgehend allein in Grönland – doch er ist überall: in den Zeitungen, im Fernsehen, auf Social Media. Im Hintergrund zieht American Daybreak die Fäden, eine Organisation, die von Trumps früherem Arktisbeauftragten gegründet wurde und auf deren Gehaltsliste Boassen steht. Das Ziel ist kein Geheimnis: Trump will Grönland. Notfalls mit Gewalt.
Am 11. März wählt Grönland ein neues Parlament. Bis vor wenigen Monaten hätte sich wohl kaum jemand für die Wahl interessiert, doch jetzt blickt die ganze Welt nach Nuuk. Für Grönland ist die Aufmerksamkeit eine Chance und ein Risiko zugleich. Die Insel möchte unabhängig werden von Dänemark, und Trumps Interesse hat ihr ein Momentum verliehen.
I. Die USA
Über Kuno Fencker existieren in Grönland zwei Meinungen. Für die einen ist er ein Landesverräter. Die anderen sehen ihn als Unabhängigkeitskämpfer.
Im Januar reiste Fencker zusammen mit Boassen zur Inaugurationsfeier von Trump nach Washington – nur wenige Wochen nachdem der US-Präsident mit der Aneignung Grönlands gedroht hatte. Fencker posierte mit Trumps Gefolgsleuten für Fotos und nahm einen Podcast auf. Zusammen mit Andy Ogles, der dem Kongress zuvor ein Gesetz unterbreitet hatte, das den Kauf Grönlands erleichtern würde. Organisiert wurde die Reise von American Daybreak, das die Beziehungen zwischen Grönland und den USA fördern will.
Über Nacht wurde aus Fencker einer der prominentesten Politiker Grönlands. Und einer der umstrittensten. Eine grönländische Abgeordnete im dänischen Parlament warf ihm öffentlich staatsschädigende Aktivitäten vor.
Fenckers Interpretation der Ereignisse geht so: «Ich bin in die USA gereist, um Grönlands Recht auf Selbstbestimmung zu verteidigen.» Die Amerikaner sieht er als mögliche Partner, als Alternative zu Dänemark. «Ihr Europäer habt Trump falsch verstanden: Er droht nicht Europa, sondern Russland und China.»
Nicht die USA sind für Fencker das Problem, sondern Dänemark. 1974 geboren, wuchs Fencker am Eisfjord von Illulisat auf, 560 Kilometer nördlich von Nuuk. Sein Grossvater war ein Däne und hatte als Inspektor für die Kolonialverwaltung gearbeitet. «Wir waren privilegiert. Andere, die das nicht waren, rutschten in die Alkoholsucht. Viele brachten sich um.»
Die Kolonialzeit ging in Grönland offiziell 1953 zu Ende, und aus der ehemaligen Kolonie wurde eine dänische Provinz. Dänemark war es gelungen, die Vereinten Nationen davon zu überzeugen, dass die Grönländer und die Dänen ein einziges Volk seien. Doch vermeintlich gleich bedeutete nicht gleichwertig.
Fencker bekam die Diskriminierung, von der so viele berichtet hatten, im Berufsleben selbst zu spüren. Er war zum Vorstandsvorsitzenden einer Reederei aufgestiegen und wunderte sich, wieso die Frachter nur nach Dänemark fuhren, aber nie in andere Länder. Über 80 Prozent der grönländischen Fischexporte gehen noch heute nach Dänemark. Dort werden die Fische und Krustentiere verarbeitet und mit Gewinn in die ganze Welt weiterverkauft. Fencker sagt: «Dieses System ist ein Überbleibsel aus der Kolonialzeit, ich wollte es ändern.» Das kam nicht gut an.
Laut eigenen Angaben landete Fencker auf einer «schwarzen Liste». «Ich finde keinen Job in Grönland, weil ich mich für die Inuit einsetze.» Das, obwohl er Management und Jus studiert hat und über Ausbildungen in der Schiffslogistik und als Fluglotse verfügt. In Grönland leben 57 000 Menschen, in der Hauptstadt Nuuk sind es 20 000. An der Spitze der grössten Unternehmen sitzen überwiegend Dänen. «Die Hierarchie in der Gesellschaft hat sich seit der Kolonialzeit nie geändert», sagt Fencker.
Am Ende blieb ihm nur noch die Politik.
Bis zu seiner Reise in die USA war Fencker ein erfolgloser Lokalpolitiker. Bei den letzten Wahlen hat er 66 Stimmen erhalten und den Sprung ins Parlament nur als Nachrücker geschafft. Doch diesmal könnte er als Sieger aus der Wahl hervorgehen.
Seit einem Monat gehört Fencker zur Partei Naleraq, die sich am lautesten von allen grönländischen Parteien für die Unabhängigkeit einsetzt. Sie will den Artikel 21 des Selbstverwaltungsgesetzes so schnell wie möglich aktivieren. Das wäre ein Startschuss für die Verhandlungen mit Dänemark und der Beginn eines langen Prozesses in die Unabhängigkeit. Für Fencker gibt es keinen Grund zu warten: «Wir brauchen einen souveränen Staat.»
Es gehe nicht darum, die Verbindungen zu Dänemark komplett abzubrechen. Das Ziel müsse eine gleichberechtigte Zusammenarbeit freier Staaten sein. Grönland müsse seine Verträge selbst verhandeln, selbst Mitglied in der Uno und der Nato sein. Und vor allem: «Wir müssen unsere Ressourcen selbst nutzen, unsere Wirtschaft diversifizieren und Wohlstand schaffen.»
Derzeit bestimmt Dänemark über die grönländische Aussen- und Sicherheitspolitik. Bis vor kurzem glaubten alle, die grösste Hürde für Grönlands Unabhängigkeit sei die finanzielle Abhängigkeit von Dänemark. Jährlich fliessen aus Kopenhagen Subventionen in der Höhe von 500 Millionen Euro nach Nuuk. Das macht einen Drittel der jährlichen Staatseinnahmen aus.
Doch einen Monat vor den Wahlen geschah plötzlich etwas, was das Verhältnis zwischen Nuuk und Kopenhagen für immer auf den Kopf stellen könnte. Fencker sagt: «Die Dänen haben uns eingeredet, dass wir nichts sind ohne sie und ihre Subventionen. Aber ich bin überzeugt: Wir können ohne Dänemark leben.»
Er könnte damit recht haben.
II. Der Film
Die Recherche schlug ein wie eine Bombe. 400 Milliarden dänische Kronen (54 Milliarden Euro) – so viel Umsatz soll das Staatsunternehmen Danish Cryolite Company zwischen 1854 und 1987 mit dem Abbau von Kryolith in einer einzigen Mine im Süden Grönlands gemacht haben. Das zeigte ein Dokumentarfilm, den der dänische Sender DR kurz vor den Wahlen ausstrahlte.
Der Film wirft Fragen auf: Hat Grönland über all die Jahre Dänemark finanziert und nicht umgekehrt? Welchen Beitrag hat der Bergbau in Grönland zur dänischen Wirtschaft geleistet? Und wieso haben die Inuit kaum vom Geschäft profitiert?
Wenige Tage nach der Ausstrahlung nahm DR den Film vom Netz. Die Begründung: Die Berechnungen seien falsch, die Zahl viel zu hoch und die Experten uneinig. Stattdessen strahlte der Sender ein paar Tage später eine Satiresendung aus, die sich über die Inuit und den Film lustig macht. In Grönland sind sich alle sicher: Dänemark will die Wahrheit vertuschen.
An einem Dienstagabend Ende Februar wird die gecancelte Doku im Kulturzentrum von Nuuk ausgestrahlt. Im Foyer haben sich gleich zwei dänische TV-Teams in Position gebracht. Als die Zuschauerinnen und Zuschauer aus dem Saal treten, drängeln sie sich vor.
Die Freundinnen Nivi und Manu lassen einen aufdringlichen Journalisten abblitzen. Nivi sagt über den Film: «Ich fühle mich bestätigt. Und gleichzeitig bin ich frustriert.» Dänemark habe stets versucht, die Grönländer hinters Licht zu führen. «Aber im Gegensatz zu den älteren Generationen haben wir das Privileg, frei sprechen zu können.»
Die Grönländerinnen und Grönländer haben lange über das Unrecht geschwiegen, das ihnen angetan wurde. Über die Spiralen, die die dänischen Behörden Tausenden von Mädchen ohne deren Einwilligung einsetzen liessen, um das Bevölkerungswachstum zu stoppen. Über die Kinder, die ihren Eltern entrissen und nach Dänemark geschickt wurden, damit sie dänisch würden. Über dänische Väter, die sich nie zu ihren Kindern bekannten.
In den letzten Jahren kamen immer mehr Schicksale ans Licht und mit ihnen eine Erkenntnis: Es waren keine Einzelfälle, sondern ein struktureller Missbrauch. Manu sagt: «Ich habe mit meiner Mutter viel über die Kolonialzeit gesprochen, weil sie es wichtig fand, dass ich weiss, wie die Dänen uns behandelt haben. Aber darüber, was in den letzten fünfzig Jahren geschah, haben wir kaum geredet, weil wir nicht viel darüber wussten.»
Das ändert sich gerade. Auch dank den sozialen Netzwerken. Manu spricht offen über rassistische Erfahrungen, die sie in Dänemark gemacht hat. Nivi trägt auf ihren Händen traditionelle Inuit-Tattoos, die einst von den dänischen Kolonialisten verboten wurden.
Doch Grönland leidet immer noch. Die Suizidrate ist weltweit eine der höchsten, Drogen- und Alkoholmissbrauch und Spielsucht treiben Menschen in die Obdachlosigkeit. Nivi sagt: «Die Kolonisierung hat Spuren hinterlassen, es gibt eine vererbte Last, und viele Junge haben psychische Probleme.» Manu ergänzt: «Aber wir sind dabei, unsere Kultur zurückzugewinnen. Wir sind sehr stark.»
Nivi studiert in Kanada Inuit-Wissenschaften und kandidiert bei den Wahlen für die linke Regierungspartei Inuit Ataqatigiit. Sie träumt nicht nur von einem unabhängigen Grönland, sondern von einem Systemwechsel. Die grönländische Verfassung beruhe auf der Bibel, das passe nicht zu den Werten der Inuit. Genauso wenig wie der Kapitalismus. «Das System, das uns gebrochen hat, kann uns nicht heilen.»
III. Das Erbe
Laali Berthelsen hätte allen Grund, die Dänen zu hassen.
Ihre Mutter war elf Jahre alt, als sie ihrer Familie entrissen und nach Dänemark geschickt wurde, um dänisch zu werden, die dänische Sprache, vor allem aber den dänischen Lebensstil zu lernen. Als sie nach Grönland zurückkam, hatte sie ihre Muttersprache verlernt. Sie fühlte sich fremd in beiden Welten. Irgendwann begann sie zu trinken.
Ihr Vater, ein dänischer Bauarbeiter, war nach Grönland gekommen, um Strassen und Häuser zu bauen. Er wollte drei Monate bleiben, doch dann lernte er Berthelsens Mutter in einer Bar kennen. Sie bekamen zwei Kinder, dann kam die Trennung. Berthelsen und ihre kleine Schwester liess er bei der alkoholkranken Mutter zurück.
Doch Berthelsen hasst die Dänen nicht. Stattdessen sagt sie: «Uns verbindet eine lange Geschichte mit Dänemark, und wir dürfen nicht vergessen, dass nicht alles schlecht war.» Alle Verbindungen zu kappen, sei der falsche Weg – und auch gar nicht möglich. «Wir sind noch nicht bereit für die Unabhängigkeit.»
Grönland fehlt es an Fachkräften. Ärzte, Gymnasiallehrer und Experten in der Verwaltung – sie alle kommen aus Dänemark. An der grönländischen Universität sind Frauen übervertreten. Männern, denen in der Inuit-Kultur traditionell die Rolle als Fischer und Jäger zukam, fällt es schwerer, sich in der neuen Gesellschaft zurechtzufinden.
Berthelsen arbeitet im Tourismus und als Fitnesstrainerin, und sie hat positive Psychologie studiert. Sie möchte Kindern aus schwierigen Familienverhältnissen dabei helfen, eine Perspektive zu finden. Aus eigener Erfahrung weiss sie: «Nur weil deine Eltern Alkoholiker sind, musst du nicht Alkoholikerin werden.»
Es brauchte Zeit, bis sie selbst mit ihrer Vergangenheit Frieden geschlossen hat. Jahrelang reiste Berthelsen um die Welt, kam nicht zur Ruhe. «Ich hatte als Kind nie einen sicheren Ort, vielleicht fühlte ich mich deshalb sicherer, wenn ich in Bewegung blieb», sagt sie. Sie ging nach Dänemark, um zu studieren, fühlte sich dort zu Hause, doch es zog sie immer weiter. Bis sie sich in einen Dänen verliebte und mit ihm einen Sohn bekam. Heute leben sie in Nuuk. Berthelsen sagt: «Ich bin angekommen.»
In Grönland hat die Bewältigung der Vergangenheit erst begonnen.