Nachdem sie ohne Flaschensauerstoff eine Tiefe von 93 Metern erreicht hatte, verlor Jessea Lu das Bewusstsein. Im Interview schildert sie, wie der Vorfall ihr Leben zum Besseren veränderte.
Am Wettkampf «Vertical Blue» auf den Bahamas im Jahr 2018 hätten Sie fast einen Weltrekord aufgestellt, doch Sie verloren unter Wasser das Bewusstsein und mussten gerettet werden. Wie kam es dazu?
Jessea Lu: Zu jener Zeit war ich nicht in der Lage, mit bestimmten Emotionen umzugehen und meine Grenzen zu akzeptieren, wenn Dinge anders laufen als geplant. Ich bereite mich perfektionistisch auf solche Tauchgänge vor und übe die Abläufe wieder und wieder, bis ich in entsprechender Tiefe funktioniere wie auf Autopilot. Sogar meine Gedanken beschränke ich unter Wasser auf ein Minimum, um Sauerstoff zu sparen. Es geht darum, in einen meditativen Zustand zu finden. Aber meine engste Tauchkollegin musste während der Vorbereitung aufgrund anderer Verpflichtungen abreisen und fehlte für zwei oder drei Wochen. Ich musste andere Trainingspartner suchen. Dann bekam ich eine leichte Erkältung. All das beeinflusste mich, was mir aber erst im Nachhinein bewusst wurde, weil ich so fokussiert auf diesen einen Tauchgang war.
Wie wirkte sich das im entscheidenden Moment aus?
Ich war physisch nicht bei 100 Prozent. Aber dann kehrte meine Tauchpartnerin zurück, und ich redete mir ein: Wunderbar, jetzt kommt alles gut. Später reagierten andere Profitaucher erschrocken, als sie sich das Video meines Weltrekordversuchs anschauten. Sie sagten mir, ich hätte so stark am Hilfsseil gezogen, um schnell in die Tiefe zu kommen, dass ich dabei unnötig viel Sauerstoff verbraucht hätte. Ich bewegte mich längst nicht so entspannt wie sonst unter Wasser.
Jessea Lu
Trotzdem schafften Sie es bis zur damaligen Weltrekord-Tiefe von 93 Metern, ohne Flaschensauerstoff. Der Rekord zählt aber nur, wenn man aus eigener Kraft wieder nach oben kommt.
Normalerweise wendet man an der Zielmarke sehr schnell und taucht aufwärts. Ich griff aber zunächst vergeblich nach der Platte und verlor wertvolle Zeit, etwa zwölf Sekunden. Und was noch schlimmer war: Als ich im dunklen Wasser nach der Platte tastete, verlor ich meinen Autopilot-Modus und war plötzlich bei vollem Bewusstsein. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Im nächsten Moment, an den ich mich erinnere, beugten sich mehrere Menschen über mich, um mich zu reanimieren.
Sie hatten fast acht Minuten nicht geatmet. Können Sie Ihre Emotionen beschreiben, als Sie wieder zu sich kamen? Waren Sie schockiert? Oder erleichtert?
Es gab eine lange Zwischenphase zwischen jenem Augenblick, in dem ich meine Situation realisierte, und den Momenten, als ich meine Augen öffnen und interagieren konnte. Ich lag also da, bei vollem Bewusstsein, aber gleichzeitig unfähig zu jeglicher Regung. In jener Zwischenphase fühlte ich mich sicher, warm und geborgen wie nie zuvor. Ich befand mich mental an einem wunderbaren Ort, in einem Zustand des Glücks. Ich wollte nirgends anders sein als dort, wo ich in völliger Trance miterlebte, wie die Helfer um mein Leben kämpften. Es war eine einzigartige Erfahrung.
Wie ging es weiter?
Die Sinne kehrten nach und nach zurück, zunächst das Gehör. Und wie! Alles war 20-mal lauter als sonst. Dann spürte ich den Druck auf meiner Brust von der Reanimation. Als Nächstes dachte ich, jetzt muss ich diesen Leuten sagen, dass ich okay bin. Ich wollte ihnen zurufen: Beruhigt euch wieder! Aber ich konnte mich immer noch nicht rühren. Nur sehr langsam kehrten die motorischen Fähigkeiten zurück.
Wurde Ihnen mit einem grösseren zeitlichen Abstand bewusst, dass der Vorfall tödlich hätte enden können?
Ich war nie lebensmüde. Aber der Tod hatte für mich nie etwas derart Beängstigendes, dass eine Gefahr mich zurückgehalten hätte, bestimmte Dinge zu tun. Als ich heranwuchs, machte ich meinen Frieden damit, sterben zu können. Phasenweise entwickelte ich eine Art morbide Neugierde, wie es sich wohl anfühlt. Meine Kindheit war schmerzhaft. Seit ich etwa sechsjährig war, umarmte mich meine Mutter nicht mehr. Sie hatte gute Absichten, aber sie behandelte mich wie einen Bonsai-Baum: Alles musste exakt ihren Vorstellungen entsprechen. Als achtjähriges Mädchen fragte ich sie: «Wenn ich tot wäre, wäre das besser für dich?» Sie bejahte. Darunter litt ich viele Jahre lang.
Änderte die Nahtoderfahrung etwas in Ihnen?
Auf jeden Fall. Ich kann mich heute viel mehr an alltäglichen Dingen erfreuen und das Leben geniessen als vorher. Das Blackout half mir, meine inneren Monster zu besiegen.
Können Sie das genauer beschreiben?
Erlebt zu haben, wie meine Sinne nach und nach zurückkehrten, machte mich wertschätzender. Die Menschen erinnern sich in aller Regel nicht daran, wie es war, nach der Geburt die Augen zu öffnen und sehen zu können. Es ist zu lange her. Sie wissen auch nicht mehr, wie es war, erstmals aufstehen und laufen zu können. Ich erlebte all das nun sehr bewusst ein zweites Mal, diesmal als Erwachsene. Vorher nahm ich es als selbstverständlich, Geräusche zu hören. Jetzt freue ich mich darüber. Übrigens war das Tauchen für mich auch sonst eine sehr gute Lebensschule.
Inwiefern?
Die Erfahrungen unter Wasser sind unvergleichlich. Der Herzschlag sinkt, das Blut wandert von den Extremitäten zum Herzen und zur Lunge. Die gesamte Existenz fokussiert sich auf eine Aufgabe, alles Ablenkende rückt zur Seite. Man fühlt Zufriedenheit.
Für andere ist Tauchen eher mit Ängsten verbunden: vor den Tieren oder vor dem Wellengang im Meer. Und vor allem vor dem Kontrollverlust, nicht atmen zu können.
Als ich damit anfing, glaubte ich ebenfalls, unter Wasser werde nach einer sehr begrenzten Zeit der Sauerstoff knapp, ich würde das nicht überleben. Daraufhin arbeitete ich im mentalen Bereich an mir und schaffte es, mich innerlich so sehr zu entspannen, dass mein Körper unter Wasser wie von selbst funktionierte. Ab diesem Moment verfügte ich beim Tauchen über ganz andere Möglichkeiten. Und ich fragte mich: Was kann ich in meinem Leben sonst noch mit positivem Denken beeinflussen? Mir kamen Dinge in den Sinn, auf die ich vorher nie gekommen wäre.
Zum Beispiel?
Ich hatte Angst vor der Kälte im Winter, seit mir als Kind einmal so kalt gewesen war, dass ich sehr unangenehme Erfrierungen an den Fingern erlitt. Wir hatten in unserem Zuhause in China kein ausreichendes Wärmesystem, nur eine Elektroheizung. Wenn ich mich abends ins Bett legte, fühlte es sich an wie in einer Eishöhle. Der Winter machte mich auch als Erwachsene noch niedergeschlagen und angespannt.
Und dann?
Ich stellte mich meiner Phobie mit einer Tauch-Reise in die Antarktis. Ein Lehrer achtete darauf, dass sich alles in einem sicheren Setting abspielt, mit hervorragender Ausrüstung und kurzen Tauchgängen. Mir ging es darum, mich in der extremen Kälte besser zu fühlen als bisher, und das gelang. Mittlerweile habe ich neben Orcas vor der norwegischen Küste getaucht und war in Island.
Sie empfehlen also, innere Schwächen und Ängste bewusst zu konfrontieren?
Ja, wobei das für mich sehr vage tönt. Es geht nicht darum, sich blindlings in Gefahr zu begeben. Für mich ist das Tauchen eine ideale Möglichkeit, die Verbindung zwischen Psyche und Physis zu trainieren. Der Sport zeigt mir, wie sehr wir im mentalen Bereich unsere Leistung beeinflussen können. Wir können keine Olympia-Athleten werden, nur weil wir daran glauben. Aber wir können unsere Einstellung zu jenem Schmerz ändern, den wir in den Beinen spüren, wenn wir mit maximalem Tempo rennen. So werden wir kraft unserer Gedanken zu besseren Läufern.
2022 kehrten Sie an den Wettkampf auf den Bahamas zurück. Wie tief tauchten Sie?
Um die 90 Meter. Fast so tief wie damals.
Vor dem Tauchgang lächelten Sie. Von Anspannung keine Spur.
Es war emotional keineswegs so einfach, wie es aussieht. Aber ich wollte meine negativen Gefühle endgültig überwinden. Und ich hatte wieder Helfer, auf die ich mich verlassen konnte. Anschliessend sendete ich meiner Mutter eine Nachricht. Die Fenster, die so lange geschlossen waren, sind jetzt weit geöffnet.
Wie geht es weiter? Wollen Sie weitere Rekorde im Tauchen angreifen?
Es gibt keinen Masterplan. Ich liebe es, um die Welt zu reisen und an jedem Ort etwas Neues zu lernen: Kitesurfen, reiten, einen Handstand machen. Dieses Jahr tauche ich nur zum Spass. Ich geniesse das Leben sehr, auch ohne Wettkampf.
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