Sie steht am Anfang von Pop und New Wave. Niemand hat den deutschsprachigen Pop seither nachhaltiger beeinflusst als die Sängerin, die aus der DDR kam und den Westen verblüffte.
Als sich Nina Hagen Ende der siebziger Jahre der westdeutschen Öffentlichkeit vorstellte, erschien sie als verkörperte Provokation. Sie wurde von Radio und Fernsehen aufgeboten, um über ihr kontroverses Debütalbum «Nina Hagen Band» zu reden, das dem deutschsprachigen Publikum im Herbst 1978 die schrecklichen Offenbarungen des Punk beschert hatte.
Punk war damals kein neues Phänomen mehr; von New York und Britannien hatte sich die Bewegung auf ganz Europa verbreitet. Aber Nina Hagen war eine der ersten Botschafterinnen, die die Mission aus der finsteren Subkultur ans Tageslicht des deutschen Mainstreams brachte. Und dabei brillierte sie mit einer vokalen Selbstsicherheit und mit einer musikalischen Professionalität, die sonst eher untypisch waren für das Genre.
Rebellisch und schamlos
In den Interviews wurde rasch klar, dass zwischen dieser schlagfertigen Künstlerin und ihrer schamlosen Kunst kaum Platz blieb für ein blosses Rollenspiel. Man musste es zur Kenntnis nehmen – die Punk-Diva mit schwarzem Haar, stechendem Blick, rundherum geschwärzten Augenhöhlen und stets üppig geschminkten Lippen war als Mensch offenbar genauso schamlos und rebellisch, wie sie sich als Rocksängerin gab. Das zeigte sich etwa bei einem Auftritt beim Österreichischen Fernsehen, wo sie in einer Sendung über Jugendprobleme verschiedene Masturbationstechniken vorstellte.
Auch im Schweizer Radio, in der Sendung «Sounds», konnte man sie damals live erleben. Wenn die Erinnerung nicht täuscht, gab sie sich dabei aber sehr anständig. Nur wenn sich dröge Rockfans per Telefon über ihren tabulosen Feminismus beschwerten, setzte es seitens der Sängerin giftige Kommentare.
Das Album «Nina Hagen Band» zählt zu den wegweisenden Werken der deutschsprachigen Pop-Geschichte. Das liegt nicht unbedingt an der Band, die sich später von der Leaderin verabschieden sollte, um unter dem Namen Spliff eine zweite erfolgreiche Karriere zu lancieren. Was den Sound des Albums betrifft, so profilierten sich die vier Begleitmusiker zwar als ambitionierte und durchaus virtuose Instrumentalisten – meist eher an Pop und Glam-Rock orientiert als an eigentlichem Punk. Die ziemlich komplexen Arrangements und die üppige Instrumentierung klingen unterdessen aber schwerfällig und abgestanden.
Noch immer frech und frisch wirken hingegen Nina Hagens Gesänge. Sie nahm kein Blatt vor den Mund, wenn sie etwa in «Unbeschreiblich weiblich» ihren Tarif durchgab. «Kotzen» reimt sich bei ihr auf «motzen». Und motzend stellt sie sich gegen die traditionelle Mutterrolle: «Vor dem ersten Kinderschreien muss ich mich erstmal selbst befreien».
In «Auf’m Bahnhof Zoo» sang sie von lesbischem Sex auf dem «Damenklo». Wirklich skandalös aber war «Pank» – für einmal auch musikalisch eine echte Punk-Nummer, die mit selbstgerechten Machos abrechnet: «Ich bin nicht deine Fickmaschine».
Fast so wichtig wie die Texte, die Nina Hagen selber geschrieben hatte, war ihr vokales Talent. Sie befeuerte die Texte einerseits mit impulsivem Temperament, andrerseits aber auch mit einer Stimme, die sie locker über mehrere Oktaven bewegte. Dabei beherrschte sie diverse expressive Ausdrucksformen wie das hohe Kieksen, die tiefe Inbrunst und ein pathetisches Pseudo-Belcanto.
Ihr gesangliches und dramatisches Können weist auf ihre Herkunft zurück. Am 11. März 1955 wurde sie in Ostberlin geboren, als Tochter der prominenten Schauspielerin Eva-Maria Hagen. Auch Nina wollte später ans Theater. Der sozialistische Staat aber verwehrte ihr den Eintritt in die Schauspielakademie. Nina Hagen nämlich schien dem DDR-Regime dadurch verdächtig, dass ihre Mutter mit dem Dissidenten Wolf Biermann liiert war.
Nina Hagen wich deshalb auf die Musik aus, sie studierte am Zentralen Studio für Unterhaltungskunst und erhielt nach einem Jahr das Diplom als «staatlich geprüfte Schlagersängerin». 1975 veröffentlichte sie mit der Gruppe Automobil den Schlager «Du hast den Farbfilm vergessen». Im Jahr darauf verliess sie die DDR. Ein Jahr lebte sie in Grossbritannien, bevor sie 1978 Deutschland aufschreckte mit ihrem Sound und ihrer Show.
Die Skandale und Kontroversen machten Nina Hagen gleich zur Legende. Sie wurde fortan als «Godmother» des deutschen Punk gefeiert. Zweifellos hat sie die Entwicklung der deutschen Pop-Musik nachhaltig mitgeprägt – ihre Musik inspirierte später fast alle Künstler von der Neuen Deutschen Welle bis zum Deutschrap. Nina Hagen ist auch selbst stets aktiv geblieben. Sie hat sich später neue Ausdrucksformen und Stile angeeignet wie Reggae, New Wave und sogar Gospel. Ausserdem trat die Sängerin auch in zahlreichen Fernsehproduktionen und Filmen auf – an der Seite des Komikers Otto Waalkes etwa in «7 Zwerge» (2004/2006).
Wie wär’s mit einem Spätwerk?
Doch alle ihre künstlerischen Aktivitäten hatten nie mehr auch nur annähernd die Wirkung ihres Punk-Debüts. Das Schicksal scheint ihr eine einmalige Mission zugedacht zu haben: als feministische Punk-Botschafterin. Später durfte sich Nina Hagen zwar weiterhin in den Sphären der Prominenz bewegen. Mehr als durch Musik machte sie aber meist durch ihr wechselhaftes Privatleben, durch ihre spirituellen Ausflüge Richtung Saturn oder durch sonderbare Statements von sich reden – etwa durch unqualifizierte Aussagen zu Aids.
Mit Skandalen hatte die Godmother of Punk einst die Grenzen des Sagbaren erweitert. Später wirkte sie eher wie eine sympathische, etwas durchgeknallte Skandalnudel, mit der man am Fernsehen biedere Gesprächsrunden auflockern konnte. In letzter Zeit war es eher ruhig geblieben um die Künstlerin. Ein runder Geburtstag aber rückt sie nun wieder ins Rampenlicht: Heute wird Nina Hagen siebzig!
Aber was sind schon siebzig Jahre? Kein Alter jedenfalls für eine Frau, deren Talente und deren Zivilcourage unbestritten sind. Und so möchte man ihr zuflüstern: Es ist Zeit für ein skandalöses Spätwerk!