Martin Pfister für Viola Amherd: Die Ersatzwahl vom Mittwoch verlief sehr geschmeidig. Bei den nächsten Rücktritten wird es komplizierter.
Kaum hatte das Spektakel begonnen, war es schon vorbei. Die Bundesratswahl vom Mittwoch verlief radikal schnörkellos, um ein Haar hätte Martin Pfister das absolute Mehr bereits im ersten Wahlgang erreicht. Im zweiten war seine Wahl dann Tatsache. Prompt witterten manche Strategen der Mitte-Partei argumentative Morgenluft.
Wochenlang waren sie von den anderen Parteien und den Medien kritisiert und belächelt worden, weil sie gerade einmal zwei Kandidaten gefunden hatten, und auch dies nur mit Ach und Krach. Nach erfolgter Wahl sahen sie sich bestätigt. Dass es kaum taktische Spielchen gab, dass keine «wilden» Kandidaturen lanciert wurden, dass Pfister so umstandslos gewählt wurde: All dies nehmen Mitte-Vertreter als Zeichen für die Qualität ihres Tickets.
Man kann es auch anders sehen. Die Mitte profitierte erstens vom «Gleichgewicht des Schreckens» unter den Bundesratsparteien: Man respektiert gegenseitig die offiziellen Nominationen, um selber keine unliebsamen Überraschungen zu erleben. Zweitens – und wichtiger: Der Anspruch der Mitte wurde von keiner Seite infrage gestellt. Die Partei hat seit 2003 nur noch einen Bundesratssitz. Mit einem Wähleranteil von 14,1 Prozent kann sie argumentieren, dass sie damit rechnerisch schlecht bedient ist, verfügen doch die FDP und die SP mit 14,3 und 18,3 Prozent über je zwei Bundesräte.
Somit ist auch klar, dass die schwierigen Fragen weiterhin nicht beantwortet sind – und dass der Verteilkampf mit grosser Wahrscheinlichkeit bei den nächsten Rücktritten offen ausbrechen wird. Die Spielregeln für die künftige Zusammensetzung des Bundesrats sind noch immer unklar. Die Parteien haben bis anhin keine Alternative zur Zauberformel von 1959 gefunden, die mittlerweile rein mathematisch verstanden wird. Sie sieht vor, dass die drei stärksten Parteien je zwei Sitze erhalten und die vierte einen.
Parmelin und Cassis im Fokus
Das Schema 2-2-2-1 hat lange relativ gut zur realen Parteienlandschaft der Schweiz gepasst. Seit dem Aufstieg der SVP aber – ziemlich genau seit den Wahlen 2007 – ist diese Zeit vorbei: Es gibt noch eine grosse Partei, die SVP mit 28 Prozent, und dahinter drei Parteien, die sich einander stark angenähert haben, mit Wähleranteilen zwischen 14 und 18 Prozent. Was nun?
Vor fünf Jahren hat die damalige CVP, die heutige Mitte, einen Versuch unternommen, mit den anderen Parteien proaktiv eine neue Formel auszuhandeln. Das Experiment ist rasch gescheitert. Seither ist der Tenor im Bundeshaus relativ deutlich: Am Verhandlungstisch abstrakte Spielregeln zu definieren, ist nicht möglich. Man muss den Machtkampf austragen. Gelegenheit dazu bietet sich, sobald die nächsten Vakanzen entstehen. Umso mehr interessiert die Frage, welches Bundesratsmitglied wann den Hut nehmen wird.
Genaues weiss naturgemäss niemand. Aus heutiger Sicht aber wäre es überraschend, wenn während der laufenden Legislaturperiode, die noch bis Dezember 2027 dauert, ein weiterer Rücktritt erfolgt. Im Fokus stehen primär die zwei amtsältesten Magistraten: Guy Parmelin von der SVP, der im zehnten Amtsjahr steht, sowie der Freisinnige Ignazio Cassis, der seit November 2017 mitregiert. Vereinzelt ist auch der Name von Karin Keller-Sutter zu hören, aber sie ist erst seit 2019 im Amt, zeigt keine Ermüdungserscheinungen und gilt als führender Kopf im Bundesrat. Es würde erstaunen, wenn die FDP-Frau diese Rolle bald abgeben wollte.
Auf der sicheren Seite ist nur die SVP
Im Falle Parmelins sind schon mehrfach konkrete Rücktrittsgerüchte verbreitet worden, die sich allesamt als falsch herausstellten. Aus dem Umfeld des Wirtschaftsministers ist zu hören, Parmelin wolle nicht vor den nächsten Wahlen im Oktober 2027 zurücktreten. Ein vorzeitiger Abgang mitten in der Amtsperiode würde auch nicht zu seinem Rollenverständnis als loyaler Staatsdiener passen.
Und Ignazio Cassis? Der Aussenminister ist dem Vernehmen nach entschlossen, sein gewichtiges Langzeitprojekt – das Paket neuer Abkommen mit der EU – weiterhin persönlich zu vertreten. Diesem ohnehin schwierigen Dossier würde er mit einem vorzeitigen Rücktritt einen Bärendienst erweisen. Es erwartet denn auch kaum jemand, dass er vor Ende der Legislaturperiode geht. Cassis würde damit auch die FDP in die Bredouille bringen, weil unweigerlich mit einem Angriff der Mitte-Partei zu rechnen wäre.
Daraus folgt: Weil es mit hoher Wahrscheinlichkeit keine vorzeitigen Rücktritte mehr geben wird, dürfte der Ausgang der Parlamentswahlen im Oktober 2027 entscheidend sein. Hier wird das Spielfeld neu abgesteckt. Wichtig ist primär das Resultat der Nationalratswahlen, ins Gewicht fällt aber auch die Anzahl der Ständeratssitze. Nimmt man die Gesamtzahl der Mandate in den beiden Kammern als Gradmesser, liegen heute – abgesehen von der SVP mit 68 Sitzen – alle Parteien relativ nahe beieinander: Die SP hat 50 Sitze, die Mitte 44 und die FDP 38. Dahinter folgen die Grünen mit 26. Wie soll man da die sieben Bundesratssitze sinnvoll verteilen?
Die Grünen haben aus heutiger Sicht kaum eine Chance, den Sprung in die Regierung zu schaffen. Nichts deutet bis jetzt auf einen erneuten grünen Wahltriumph hin wie 2019. Ebenfalls absehbar ist, dass die SVP nach allen mathematischen Prinzipien weiterhin problemlos zwei Sitze für sich in Anspruch nehmen kann. Dasselbe gilt wohl für die SP, wenn auch rechnerisch nicht annähernd so eindeutig.
Ausgerechnet die FDP und die Mitte
Das entscheidende Duell findet zwischen FDP und Mitte statt. Falls ihr Zweikampf bei den Wahlen mit einem eindeutigen Resultat endet, sollte die Sache klar sein: Wer bei den Nationalratswahlen vorne liegt und gesamthaft die grössere Fraktion stellt, erhält zwei Sitze im Bundesrat. Sollte die Mitte obsiegen, käme der Freisinn unter Druck, eines der beiden amtierenden Bundesratsmitglieder – Cassis oder Keller-Sutter – zum Rückzug zu bewegen, falls keines freiwillig zurücktritt.
Kompliziert wird es, wenn die Wahlen kein deutliches Resultat ergeben – wenn zum Beispiel die FDP weiterhin den höheren Wähleranteil hat, die Mitte aber dank dem Ständerat die grössere Fraktion. Dann könnte es hart auf hart gehen. Beide Parteien könnten versucht sein, Allianzen zu schmieden – die FDP wohl mit der SVP, die Mitte mit dem rot-grünen Lager –, um für sich zwei Bundesratssitze zu sichern.
Die Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die beiden Parteien im Zentrum der politischen Landschaft, die sich bei vielen Themen am nächsten stehen und die vor allem ganz grundsätzlich das System der Konkordanz noch am konsequentesten mittragen – ausgerechnet diese beiden Parteien könnten sich im Kampf um den Bundesrat aufreiben und für lange Zeit verfeinden.
Frauen und Deutschschweizer im Vorteil
Als wäre der Wettstreit unter den Parteien nicht anspruchsvoll genug, kommen weitere Komplikationen hinzu. Erstens: Die Vertretung der Geschlechter ist zurzeit suboptimal. Nach der Wahl vom Mittwoch ist der Männeranteil in der Landesregierung mit 71 Prozent so hoch, dass die Parteien bei den nächsten Vakanzen unter Druck stehen werden, Frauen nicht nur zu portieren, sondern auch zu wählen.
Zweitens: die Sprachen. Zurzeit ist die Deutschschweiz mit vier Vertretern eher unterrepräsentiert, daneben umfasst der Bundesrat zwei Romands und einen Tessiner. Das freut die deutschschweizerisch dominierte SVP: Sie wird froh sein, wenn sie für Guy Parmelin, dessen Nachfolge wegen der Anciennität zuerst geregelt wird, keine frankofone Kandidatur suchen muss. Das bedeutet wiederum, dass der Sitz von Ignazio Cassis – gehe er nun an die FDP oder an die Mitte – von jemandem aus der lateinischen Schweiz, am ehesten von einer Westschweizerin, einem Westschweizer, übernommen werden sollte.
Parteien, Geschlechter, Sprachen, Landesteile: So einfach wie am Mittwoch wird so bald wohl keine Bundesratswahl mehr ablaufen.