Estelle Revaz ist eine erfolgreiche Cellistin – und seit 2023 Nationalrätin im Bundeshaus. Dort setzt sie sich besonders für freischaffende Künstler ein. Eigene Erfahrungen aus der Corona-Zeit gaben den Anstoss.
Den Capriccios von Joseph Dall’Abaco hat Estelle Revaz ihr jüngstes Album gewidmet, elf virtuosen Fantasien für Violoncello solo aus dem Barock. Dabei sieht sich die Cellistin eigentlich mehr als Teamplayerin, und auch für solistische Capricen hat sie momentan selten Zeit. Seit einem guten Jahr ist sie nämlich Nationalrätin für den Kanton Genf in Bern: als erste aktive Künstlerin, an die man sich dort erinnern kann.
Dass Estelle Revaz im Dezember 2023 mit gerade einmal 34 Jahren ins Bundeshaus eingezogen ist, hat mit einer Zeit zu tun, die für manche rückblickend wie ein besonders kapriziöser Traum – oder Albtraum – wirkt: die Zeit der Pandemie. Von Politik habe sie damals «null Ahnung gehabt», gibt Revaz selbst bei einem Zoom-Gespräch zu. Eine reisende Solistin zu werden, das war ihr Ziel, und ihre Karriere befand sich bereits auf dem besten Weg. Doch mit dem Reisen war es plötzlich vorbei, mit grösseren Konzerten ebenso.
Als die Schweizer Anti-Corona-Bestimmungen gerade noch eine Handvoll Zuhörer in Veranstaltungen zuliessen, organisierte Revaz ein kleines Festival in einer Kirche. Aber zwei Stunden vor Beginn wurde das Eröffnungskonzert abgesagt – Gottesdienste in derselben Kirche blieben dagegen für bis zu fünfzig Menschen erlaubt. «Das hat mich in meiner Identität getroffen.» Und während festangestellte Orchestermitglieder weiterhin bezahlt und Gastwirte immerhin für ausbleibende Gäste entschädigt wurden, standen freiberufliche Musiker von heute auf morgen ohne Einkünfte da. Für Revaz war diese Erfahrung so etwas wie die Vertreibung aus dem Paradies.
Politisches Naturtalent
Aufgewachsen im Bergdorf Salvan im Wallis, war sie mit dem Vater, einem Literaturprofessor, im Alter von zehn Jahren nach Paris gekommen, später nach Genf. Revaz hat Cello am Pariser Conservatoire studiert und an der Musikhochschule in Köln. Musik galt in der Familie immer als «systemrelevant», für die Politik seinerzeit nicht. Also griff sie wild entschlossen zum Hörer und telefonierte sich in den Berner Politikbetrieb hinein, bis hinauf zum damaligen Gesundheitsminister Alain Berset. Tatsächlich sorgte sie schliesslich wesentlich mit dafür, dass Musiker für entgangene Honorare entschädigt wurden.
Dass hier offenbar ein politisches Naturtalent aufgetaucht war, sprach sich bald herum. Bei den Nationalratswahlen 2023 boten ihr SP, Mitte und FDP einen Platz auf der Liste an. Revaz entschied sich für die Sozialdemokraten: Soziales, die Gleichstellung der Frau – das waren auch ihre Themen. Und die Kunst, die weiterhin ihr Fokus bleiben sollte, wenn auch fortan in zweifacher Optik.
Ihre erfolgreich gestartete Solokarriere wollte Revaz nämlich keineswegs aufgeben. Als Artist-in-Residence des Genfer Kammerorchesters hat sie bereits das Cellokonzert des Schweizers Frank Martin eingespielt, dazu die grossen Sonaten für Cello und Klavier von Beethoven, Brahms und Ginastera, auch zwei der Solosuiten von Bach in Kombination mit zeitgenössischen Werken. In diesem Jahr stehen sechzig Konzerte auf ihrer Agenda, schwerpunktmässig in Frankreich und in der Schweiz, aber auch in Argentinien und Uruguay.
Ihr Reisebegleiter ist dabei stets «Louis XIV». So nennt sie ihr Cello, ein Instrument von Giovanni Grancino aus dem Jahr 1679. Warum ausgerechnet der französische Sonnenkönig? Weil das, so sagt sie augenzwinkernd, «eine Zeit war, in der die Kultur sehr geschätzt wurde». Mit «Louis XIV», der ihr von einer Schweizer Stiftung zur Verfügung gestellt wird, reist sie zu den Konzerten, die in der Regel am Wochenende stattfinden. Von Montag bis Donnerstag dagegen, wenn die Sessionen des Nationalrats stattfinden, nimmt sie ihn regelmässig schon um vier Uhr früh mit ins Bundeshaus, um dort erst einmal ungestört Cello zu üben.
Ein wenig «Protektionismus»
Auch als Parlamentarierin will Revaz nicht auf Themen setzen, «die rein politisch sind», wie sie sagt; vielmehr auf solche, «die zu meiner Person als Künstlerin passen». Sie sieht hier eine Repräsentationslücke: Die Künste seien für die meisten Politiker «nicht unbedingt sexy mit Blick auf den nächsten Wahlgang».
Das schlägt sich nach Ansicht von Revaz auch in sozialen Schieflagen nieder. «Profikünstler in der Schweiz zu sein, ist extrem schwierig.» Juristisch gelten freiberufliche Musiker ebenso als Selbständige wie Ärzte oder Rechtsanwälte. Nur dass sie in der Regel begrenzte Engagements oder Kurzzeitverträge haben; zudem reisen sie viel, oft ins Ausland, wo es wiederum eine unterschiedliche Sozialgesetzgebung gibt. Dazu kommt für Revaz etwas Grundsätzliches: Der Schweizer Musikmarkt ist zwar in der Grösse überschaubar, aber finanziell wie vom Niveau höchst attraktiv für Musiker aus aller Welt.
Ein wenig «Protektionismus» würde sie für die Schweiz deshalb durchaus begrüssen. «Es gibt hier keine Kultur, die eigenen Künstler zu unterstützen.» Etwa wie in Frankreich, wo häufig zuerst einheimische Musiker angefragt würden. Und wo es, ebenso wie in Deutschland, eigene Sozialversicherungssysteme für freiberufliche Künstler gibt: staatliche Ausgleichszahlungen für temporäre Arbeitslosigkeit in Frankreich, die Künstlersozialkasse in Deutschland.
Estelle Revaz hat unterdessen in der Legislaturplanung des Nationalrats einen Artikel durchsetzen können, der verlangt, die Sozialversicherungen an die beruflichen Realitäten der Kulturschaffenden anzupassen. Eine erste Fassung wird demnächst im Parlament vorgelegt, dann kann die Debatte beginnen.
Gut möglich, dass sie sich damit durchsetzen wird. Schliesslich sorgte sie bereits in ihrem ersten Monat als Nationalrätin mit einer Motion zur Armutsbekämpfung für Aufsehen. Vor allem, weil diese am Ende von Abgeordneten aus allen Parteien mitunterzeichnet wurde, auch von der Mitte und sogar aus der SVP.
Die Politik inspirieren
Wie das kam? «Ich mache ein bisschen anders Politik als andere», sagt Revaz, «mit viel Freude.» Und mit vielen Gesprächen über alle Parteigrenzen hinweg. «Kammermusik» wäre der Begriff aus ihrer anderen Berufswelt dafür. Revaz kennt es als Cellistin bestens, weil das Cello seinen Einsatz oft in Ensembles und kleineren Formationen hat. Im Klaviertrio oder im Streichquartett etwa, wo sich alle Mitglieder dann über unterschiedliche Vorstellungen bei der Interpretation verständigen müssen, auch solche, die sich sonst kaum etwas zu sagen haben.
Sie sei «fasziniert von Menschen, die anders denken als ich», sagt Revaz. «Ich wollte mit denen gemeinsam musizieren.» Es ist die Multiperspektivität, die inhaltliche Deutungsoffenheit, mit der die Kunst die Politik inspirieren kann, möglicherweise gerade in Zeiten heftiger politischer Spaltungen. Sie unterscheidet die Kunst aber zugleich grundlegend von den Gepflogenheiten in der Politik.
Das weiss auch Revaz. Sie gehört keineswegs zu jenem Typ des «politischen Künstlers», der mit ein paar markigen Posts in sozialen Netzwerken oder einer Ansprache beim Konzert die Welt zu retten hofft. Sie weiss, dass sich Politik zumeist in kleinen, pragmatischen Schritten bewegt, dabei auch in der Regel deutlich unpräziser als ein Konzert, wo jede Note sitzen muss. Als Parlamentarierin kann sie diesen Unterschied aber durchaus geniessen. «Wenn ich die Welt richten will, dann mache ich Musik», sagt Revaz, «diesen Anspruch sollte man in der Politik nicht haben. Auch wenn man sich natürlich für eine Welt einsetzt, die in unseren Augen besser ist.» Mit «Louis XIV» kann sie schliesslich jederzeit ins Paradies zurückkehren.