In Gaeta versinkt und aufersteht Bella Italia: Wer die Essenz der Stadt der mächtigen Festungen erfahren möchte, sollte die Bar «Bazzanti» besuchen – den Sinusknoten im Herzen der Cittadella.
In der Bar «Bazzanti» ist alles da, Ende, Anfang und dazwischen die grosse Historie der kleinen Zitadellenstadt. Geh in die Bar «Bazzanti», und du erfährst, was Gaeta ist. Die umsichtigen Frauen stellen dazu die berühmten Itrana-Oliven bereit, und am weissen Fiano wird es auch nicht fehlen. Das Lächeln ist geschenkt, vom ersten «caffè» um sechs Uhr in der Früh bis zum letzten Glas am Abend; «Bazzanti» ist der Sinusknoten im Herzen der Stadt.
An einer Wand zeigt ein Bild die grosse Explosion des Pulverturms im Februar 1861, die letztlich zur Einigung Italiens führte. Daneben macht ein altes Plakat aufmerksam auf die Ausstellung «Lepanto» des Künstlers Cy Twombly (1928–2011) – der Amerikaner hat es signiert und dazu geschrieben, wenn er «happy» sein wolle, besuche er die Bar «Bazzanti». Er blieb Gaeta dreissig Jahre lang treu. Die «Lepanto»-Bilder sind heute im Museum Brandhorst in München zu sehen, der Pulverturm auf der Zitadelle wurde sofort wieder aufgebaut. Doch besichtigt werden darf er nicht, «zona militare!», immer noch.
In Gaeta ging und geht es stets auch um Sicherheit. Im Hafen liegt fest vertäut das anthrazitfarbene Stahlgebirge «Mount Whitney», Flaggschiff der 6. US-Flotte. Hier bilden die italienische Marine und die an Land und auf See tätige Finanzpolizei ihre Kader aus. Elektronische Augen schauen von den Hügeln hinaus aufs Tyrrhenische Meer und in den Azurhimmel.
Wie der krumme Sporn des Hahns sticht die Halbinsel von Gaeta ins Meer. Nirgends in Italien ist der Sand der Strände feiner, die Luft flaumiger. Homers Odysseus vertändelte hier seine Zeit. Im Südwesten schimmern die Silhouetten von Ischia und Ventotene, der Insel der Verbannten, wo das Manifest für ein freies und vereintes Europa entstanden ist. Von den 20 000 Menschen Gaetas leben knapp die Hälfte in der alten Stadt mit den stattlichen Häusern unter der Zitadelle.
Die Neustadt mit den Handwerksbetrieben und kleinen Werften, verbunden über die Küstenstrasse, liegt ennet dem Monte Orlando. Auf diesem Kegel hockt kreisrund wie eine mächtige Torte das zweitausendjährige Mausoleum für Lucius Munatius Plancus. Der General Caesars hat Lyon und Basel als römische Niederlassungen etabliert. Reiche Römer bauten hier in der Provinz Latina einst ihre Sommervillen am Meer, von den opulenten Bädern, Zisternen und Fischzuchtanlagen sind Reste zu sehen. Darin habe Faustina, Gattin des Kaisers Marc Aurel, gerne gelegentlich kräftige Leibeigene und Gladiatoren ertränken lassen, schreibt Tiziana Matarazzo in ihrem lesenswerten archäologischen Führer.
Viele einheimische Gäste garantieren gutes Essen
Nur rund zwei Stunden per Bahn von Rom und von Neapel entfernt, ist Gaeta heute ein beliebtes Ziel für Familien aus dem Mittelstand. Nur fünf Prozent der Touristen reisen aus dem Ausland an. Das wirkt sich unter anderem günstig auf die Qualität der Gastronomie aus: Die gestrenge tägliche Prüfung durch Einheimische sichert die Authentizität dieses Schlaraffenlandes. Marcus Gavius Apicius, Roms erster Feinschmecker, hat sich hier besonders wohlgefühlt.
Gaeta, Magnet für Mächtige, Zuflucht für vom Thron Gefallene. Die Bucht ist frei von Riffen, der Hafen leicht zu verteidigen – von da aus konnte erfolgreich Handel betrieben werden. Gaeta besass Niederlassungen in Nordafrika und in der Levante und agierte auf Augenhöhe mit den Seerepubliken Venedig, Amalfi oder Pisa. Zudem ist das Umland sehr fruchtbar, auch heute blüht hier eine kleinteilige Landwirtschaft. Nicht verwunderlich, sind die Griechen, Römer, Byzantiner, Langobarden und Bourbonen besitzergreifend aufgetreten. Gaeta ist darum nicht einfach niedlich und süss, kein Cinque-Terre-Italien.
Kickerträume bis Sonnenuntergang
Gaeta ist immer noch Garnisonstadt, Hafenstadt, Fischerdorf, Geschichtslehrbuch, kultureller Schmelztiegel, aufgeraut durch den vielfachen Gebrauch durch mächtige Fremde. Die haben sich hier ihren Profit geholt, aber selbstverständlich immer auch Zeichen ihrer eigenen Bedeutung und viele Gene dagelassen. Die Paläste und Amtshäuser, die Kasernen, Herrschaftshäuser, Kirchen, Vorwerke und Zitadellen sind von einem Gestus, der sich durch die ideale Lage der Stadt erklärt, nicht durch ihre Grösse. Auf der Piazza Commestibili, wo Gaetas Carabinieri zu Hause sind, faucht noch immer ein liebenswerter, aber sehr müd gewordener byzantinischer Löwe. Der gleichaltrige Palast neben ihm ist zusammengebrochen.
In Gaeta versinkt die rote Sonne nicht im Meer, sie verschwindet hinter dem Monte Orlando. Ein Abendspaziergang durch die Via Faustina und die Via Annunziata stellt sich als vitalisierend heraus, denn hier befinden sich empfehlenswerte Restaurants. Bevor der Flaneur aber einbiegt in die Faustina, wird er im kleinen Park neben der Piazza Caboto Zeuge eines grossen Fussballspiels der Knirpse. Alles auf ein Goal, gebildet von den beiden Kanonen links und rechts des Gefallenendenkmals. Das beste Dribbling hat ein stämmiges Mädchen drauf. Torjubel. Fachkundige Väter genehmigen sich auf der Parkbank ein Fläschchen Bier.
Über dem Festungsvorwerk La Favorita am Meer flattert nicht etwa grün-weiss-rot «la bandiera d’Italia», nein, stolz auf weissem Grund prangt das Wappen der Bourbonen. Musste dieses Königshaus nach der Explosion des Pulverturms auf der Zitadelle im Februar 1861 nicht kapitulieren und endlich verschwinden?
Im Haus gegenüber, an der Via Faustina 18, erscheint wie gerufen eine vornehm gealterte Dame in Blond, und sie weiss: «In diesem Haus waren die bourbonischen Stallungen, hier hat jetzt mein Sohn Alessandro das Restaurant ‹Stato Brado› eingerichtet. Alles bio. Besseres Fleisch bekommst du nirgends. Und das Vorwerk da, das haben wir frisch renoviert. Kürzlich war adliger Besuch aus Rom hier, ein Bourbone. Er hat sich gefreut über die schöne Fahne. Ja, und mir gefällt sie auch.» Eine unverhohlene Hommage an das Italien vor 160 Jahren? Es lohnt sich jedenfalls, im «Stato Brado» von dem sorgfältig gereiften und auf Holzkohle gerösteten Fleisch zu bestellen. Unvergesslich bleiben werden allerdings die Paccheri an einer Crème aus Pistazien – und der Montefalco Sagrantino von Antonelli 2015.
Im Dunst des umbrischen Weines beginnt in geradezu phantasmagorischer Weise diese Bourbonenfahne wieder zu wehen – und dahinter erscheint ein Herr mit Bart, Major in bourbonischer Uniform, der Ururgrossonkel des Schreibenden, Edoardo d’Auf der Maur, der in der Zitadelle im Winter 1860/1861 ein 500-köpfiges Schweizer Veteranenbataillon geführt hat. Das letzte Königspaar Süditaliens (korrekt: beider Sizilien) hatte sich von Neapel nach Gaeta abgesetzt. Die Ideen des Partisans Giuseppe Garibaldi und des piemontesischen Staatsmanns Camillo Cavour hatten Italien elektrisiert. Es roch nach Freiheit, und dieser Geruch bekommt Monarchen oft schlecht. Die Schwester der legendären Sisi, die 19-jährige Maria Sophia von Bayern, und ihr 24-jähriger Gatte Franz II. begaben sich aus dem unsicher gewordenen Neapel in den Schutz der Kasematten in der Zitadelle von Gaeta und vertrauten sich ihren letzten treuen Söldnertruppen aus Bayern und der Schweiz an. «Abasso gli Svizzeri! Vagabondi! Ammazzateli!» Die Schweizer waren nach den Massakern in Neapel und auf Sizilien nicht beliebt. «Nieder mit den Schweizern! Lumpen! Tötet sie!»
Drei Monate lang dauerte die Belagerung, die Zitadelle war zur Mausefalle geworden. Eines der über 160 000 Artilleriegeschosse, die gegen das arme Gaeta abgefeuert worden sind, traf dann am 6. Februar um 17 Uhr die Pulvermagazine. Und die Zeit war reif. Die gewaltige Explosion liess das feudalistische Italien zusammenkrachen. Das Königspaar durfte auf der französischen Korvette «Mouette» in Ehren das Land verlassen. Die NZZ vom 14. Februar 1861 meldete: «Gaeta hat kapituliert.» Und vier Tage später: «Der Jubel in Italien über die Kapitulation von Gaeta ist um so grösser, als man (. . .) sich allgemein auf eine längere Belagerung gefasst gemacht hatte.» Der Weg zur Vereinigung Italiens war frei. Gaeta ist Brennpunkt dieser Geschichte. Am 100. Jahrestag sagte der damalige Bürgermeister Pasquale Corbo: «Gaeta hat den grössten Beitrag an Mut und Blut bezahlen müssen für die Vereinigung.»
Am Wochenende kann die ältere der Zitadellen, Castello Angioino genannt, geführt besichtigt werden. Der Rundblick über die Siedlung und das Meer ist schlicht wunderbar und lohnt den Aufstieg. Anderseits droht ein Stimmungstief, war doch dieser Teil der Festung während Jahrhunderten und noch bis 1990 ein grässliches Militärgefängnis. Seither dient es immer wieder als Kulisse für haarsträubende Filme.
Verborgene Schätze und vergessene Geschichten
Gaeta ist eine Fundgrube, denn absolut erstklassige Kunst lebt neben wunderlichen Sammlungen – beides ist in der üblichen Reiseliteratur nicht zu finden und auch im Nachhinein nicht nachzulesen. Im Diözesanmuseum sind die hochwertigen Bilder aus den zwei Dutzend zum Teil baufälligen Kirchen versammelt worden. Die Modalitäten des unentgeltlichen Zutritts sind jedoch intransparent, und mehr als eine halbe Stunde Besuchszeit bekommen Sterbliche gewöhnlich nicht. Besuchen Sie doch auch das Meeresmuseum mit seinen Kuriositäten aus privaten Fundus, die Stadtbibliothek mit ihren unfassbar wertvollen Folianten, das dort angegliederte Stadtmuseum mit den schneidend antipapistischen Karikaturen! Und an jeder Hausecke hat die Geschichte etwas zurückgelassen: Alles wartet nur darauf, gesehen zu werden. Der Cerberus vor der Goldenen Kapelle stellt das Billett noch von Hand und in Handschuhen aus. Das berückende Kassettengewölbe aus Gold und Lapislazuli lässt auch Ungläubige niederknien – dem 1856 nach Gaeta geflüchteten Papst Pius IX. kam es just hier in den Sinn, er könnte ein Unfehlbarkeitsdogma ausrufen. Es wird Zeit für einen Apéritif.
In der Bar «Bazzanti» gehen die Lichter an. Von der Veranda aus geht der Blick hinaus auf den Platz. Bis in die 1920er Jahre hiess er Piazza Municipio, dann wurde er gemäss einschlägigem Pathos umbenannt zu Piazza dei Martiri Fascisti. Heute ist er dem unverdächtigen General Vincenzo Traniello gewidmet. Das kümmert den kleinen, wuscheligen Hund Dante nicht, denn in der Bar ist er der wahre Chef, und er achtet darauf, dass die Tauben nicht ins Heiligtum eindringen. Denn ein Heiligtum ist’s, und das wird spätestens bei einem Gang auf die geschlechtsneutrale Toilette klar: Hier ist gleich neben der Schüssel eine stattliche römische Säule mit korinthischem Kapitell verbaut worden, leicht schief, statisch aber wertvoll. Gaeta versteht es, mit seiner imposanten Geschichte umzugehen.
Gut zu wissen
Anreise: per Bahn von Zürich via Mailand nach Rom mit Hochgeschwindigkeitszügen. Dann interregional bis Formia. Dort warten freundliche Taxifahrer, die für 25 bis 30 Euro die letzten Kilometer überbrücken. Wer fliegen will, reist via Neapel oder Rom, dann weiter in 70 Bahnminuten nach Formia.
Unterkunft: Appartement mit Hotelservice in der «Dimora del Leone», ruhige, sehr zentrale Lage, www.dimoradelleone.com, oder in einem der zahlreichen Hotels direkt am Meer.
Essen: Fisch im «Ristorante La Salute» an der Piazza Caboto. Fleisch im «Stato Brado» an der Via Faustina 18. Innovativ im «Ristorante Attimi» an der Piazza Sebastiano Conca 17. Sushi im «Marimo» mit erstklassigen Weissweinen an der Via Faustina 1. Elegant im «Dolia Gaeta» an der Piazza Conca 22.