Im Jahr 2005 legte ein Mann Feuer in der Synagoge von Lugano. Der Anschlag sorgte europaweit für Aufsehen.
Weltweit feiern die jüdischen Gemeinden an diesem Freitag das Purim-Fest, die jüdische Fasnacht. Das Fest erinnert an einen geplanten Pogrom in Persien, der für die Juden mit dem Tod des Antisemiten Haman ausnahmsweise gut ausging. Dieses Jahr fällt Purim auf den 14. März. In der jüdischen Gemeinde von Lugano weckt das Datum eine beklemmende Erinnerung: Vor genau 20 Jahren brannte in der Stadt die Synagoge.
Ein unbekannter Täter schleuderte in jener Nacht einen Brandsatz in die unbewachte Synagoge im Zentrum der Stadt. Gegen Mitternacht wurden die Anwohner durch einen lauten Knall geweckt, die Flammen verbreiteten sich explosionsartig. Als die Feuerwehr am Unglücksort eintraf, drangen aus der Bibliothek im hintern Teil der Synagoge Flammen und Rauch. Der Raum war fast komplett zerstört, viele Werke waren verbrannt, darunter sehr alte Bücher und Folianten. Ein Übergreifen des Brandes auf den Gebetsraum mit den wertvollen Thorarollen konnten die Feuerwehrleute verhindern.
Noch während der Löscharbeiten ging bei der Polizei ein zweiter Brandalarm ein. Betroffen war diesmal das Kleider- und Stoffgeschäft «Al buon mercato» nahe der Synagoge. Das Geschäft, das bis heute besteht, war damals in der Stadt als «mercato hebrei» bekannt – ein jüdisches Familienunternehmen mit langer Tradition. Kurz darauf stand auch ein Mehrfamilienhaus im Stadtteil Castagnola in Flammen, in welchem dem Vernehmen nach eine jüdische Familie lebte. Die Behörden vermuteten eine von langer Hand vorbereitete antisemitische Tat, geplant und ausgeführt von mehreren Tätern.
Elio Bollag war damals Sprecher der jüdischen Gemeinde von Lugano. «Der Schock und das Entsetzen nicht nur in der kleinen jüdischen Gemeinschaft sass tief», sagte er am Morgen danach. Es habe keinerlei Hinweise auf eine solche Tat gegeben. Noch nie sei die jüdische Gemeinde der Stadt, die zu den besten Zeiten bis zu 800 Personen umfasste, derart angegriffen worden. Andere jüdische Gemeinden der Schweiz hätten zu Beginn der 2000er Jahre Sicherheitsmassnahmen ergriffen. In Lugano sei dies nie ein Thema gewesen. «Wir fühlten uns sicher.»
Der Täter ist ein 58-jähriger Busfahrer
Gut eine Woche nach der Tatnacht meldete die Polizei eine Festnahme. Zur allgemeinen Überraschung handelte es sich um eine Einzelperson und nicht eine judenfeindliche Gruppe. Die Polizei verhaftete einen italienischen Staatsbürger, als er einen Stein auf ein Gebäude neben dem «Al buon mercato» werfen wollte. Bereits zuvor war er an den von der Polizei überwachten Tatorten aufgefallen. Mit DNA-Spuren konnte der Mann schliesslich überführt werden. Er legte sofort ein Geständnis ab.
Rasch kamen Details ans Licht. Der 58-jährige Mann, ein Busfahrer der städtischen Verkehrsbetriebe TPL, war seit längerem krankgeschrieben und litt unter psychischen Problemen. Ende 2004 verlor er seine Anstellung. Vor Gericht erklärte er später, seine Kollegen hätten ihn nie akzeptiert – unter anderem wegen seines römischen Akzents.
Der Prozess bringt das Motiv des Täters ans Licht. Man hatte ihn entlassen, weil er sich über als orthodoxe Juden erkennbare Fahrgäste und deren Verhalten geärgert und dies offen gezeigt hatte. Deshalb wählte er in der Stadt jüdische Ziele für seine Rache aus.
Die Gerichtspräsidentin zeigte sich erleichtert darüber, dass die Brandstiftung «nicht antisemitisch motiviert gewesen» sei. Dies berichteten auch die Medien. Dennoch bleibt der Widerspruch bestehen, dass der Täter trotz seiner geistigen Verwirrung gezielt jüdische Institutionen auswählte.
Bundespräsident Samuel Schmid zeigt sich entsetzt
Das Gericht verurteilte den Mann zu einer zweijährigen Gefängnisstrafe. Die Strafe wurde jedoch ausgesetzt und in eine ambulante psychotherapeutische Behandlung umgewandelt, der Mann wurde unter Vormundschaft gestellt. Er musste auch eine symbolische Entschädigung von 3000 Franken bezahlen, die teilweise der jüdischen Gemeinde zugutekam.
Der Anschlag sorgte europaweit für Aufsehen und Solidaritätsbekundungen mit der jüdischen Gemeinde von Lugano. Nur wenige Tage nach der Tat versammeln sich im Zentrum der Stadt rund 2000 Menschen, um ihr Entsetzen auszudrücken. Repräsentanten der im Kanton vertretenen Parteien und Religionsgemeinschaften nahmen teil, darunter auch der Bischof von Lugano, Mino Grampa, der eine Rede der Solidarität hielt. Kurz danach besuchte er einen Schabbat-Gottesdienst in der beschädigten Synagoge. Bei einem Besuch in Israel hatte sich auch der damalige Schweizer Bundespräsident Samuel Schmid entsetzt über den Brand geäussert.
Jakov Kantor, der heutige Rabbiner der Chabad-Lubawitsch-Bewegung in Lugano, befand sich damals noch nicht in der Stadt. Zusammen mit seiner aus Zürich stammenden Frau zog er ein Jahr später ins Tessin. Zu diesem Zeitpunkt begann sich der Charakter der jüdischen Gemeinde zu ändern. Die älteren Gemeindemitglieder, die einer streng orthodoxen religiösen Ausrichtung angehörten, verliessen Lugano. Diese Mitglieder hatten sich unter anderem in der Stadt niedergelassen, weil der chassidische Rabbiner Bentzion Rabinowitz hier lange Jahre lebte. Rabinowitz zog später nach Israel, wo er 2024 im Alter von 89 Jahren verstarb. In der Vergangenheit existierten in Lugano 14 Geschäfte und Unternehmen, die Mitglieder der jüdischen Gemeinde betrieben.
Rabbiner Kantor organisiert den wöchentlichen Gottesdienst, das Purim-Fest und alle jüdischen Feste im Jahr. Er schätzt, dass die jüdische Gemeinschaft im Tessin noch etwa 400 Personen zählt, verteilt über den gesamten Kanton. Nur wenige nähmen an den Veranstaltungen teil, doch die Kontinuität bleibe gewahrt, sagt der Rabbiner. Die Nähe zur Metropole Mailand, mit einer grösseren jüdischen Bevölkerung, unterstützt das Überleben der Luganer Gemeinde. Die Familie Kantor ist ein gutes Beispiel: Täglich bringen die Eltern einige ihrer Kinder zur jüdischen Schule in Mailand und holen sie abends wieder ab.