Aus allen Landesteilen kehren Vertriebene in Israels Norden zurück. Für die Schüler der Sekundarschule in der Kleinstadt Shlomi stellt sich die Frage: Ist es hier wirklich wieder sicher?
Es ist ein überaus herzlicher Empfang für die fröhlich schwatzenden Schülerinnen und Schüler, die sich an einem Sonntagmorgen Anfang März an der Sekundarschule in Shlomi einfinden: Vor dem Eingang wartet ein Torbogen aus Luftballons auf die Jugendlichen, Lehrerinnen verteilen herzförmige Lollipops, eine aufblasbare Puppe winkt. Doch manches will so gar nicht in die scheinbar unbeschwerte Szenerie passen. Da ist zum Beispiel der Schulleiter, der eine Pistole im Hosenbund trägt; da sind die Soldaten mit ihren Sturmgewehren, die etwas abseitsstehen und gelangweilt auf ihre Handys tippen.
Wer an der Schule vorbeiblickt, sieht wenige hundert Meter entfernt die Grenzmauer zwischen Israel und Libanon, die sich im Zickzack über die Hügel hinter Shlomi hinzieht. Anderthalb Jahre ist es her, dass die libanesische Schiitenmiliz Hizbullah am 8. Oktober 2023 aus Solidarität mit der Hamas im Gazastreifen das Raketenfeuer auf Israel eröffnete. Kurz darauf liess die israelische Regierung 60 000 Menschen aus Nordisrael evakuieren, unter ihnen die rund 9000 Bewohner von Shlomi, das über Nacht zur Geisterstadt wurde.
Zwar herrscht bereits seit vergangenem November ein Waffenstillstand, doch erst Ende Februar gaben die Armee und die Regierung definitiv grünes Licht für eine Rückkehr in die evakuierten Gebiete. Nun kann auch die Sekundarschule von Shlomi zum ersten Mal seit Kriegsbeginn wieder ihre Tore öffnen. Und trotzdem ist man von einer Normalität weit entfernt – viele misstrauen der fragilen Ruhe an der Grenze.
Eine Drohne stürzte auf die Schule
Ophir Glick, so heisst der Schulleiter mit der Pistole an der Hüfte und der Kippa auf dem Kopf, gibt sich dennoch zuversichtlich: «Ich habe keine Angst. Die Armee ist ja hier.» Tatsächlich befindet sich gleich nördlich von Shlomi einer von fünf «strategischen Punkten», die Israels Streitkräfte nach wie vor auf libanesischem Gebiet besetzen. Seine eigene Waffe trage er nicht als Schulleiter, sondern als Bürger, zum Selbstschutz.
Glick verkündet stolz, dass alle Lehrer und rund 90 Prozent der Jugendlichen an seine Schule zurückgekehrt seien. Damit liegt sie deutlich über dem nordisraelischen Durchschnitt von 64 Prozent. Trotzdem sagt er: «Für die Schüler war es sehr schwierig.» Nach Kriegsbeginn seien diese mit ihren Familien auf 130 verschiedene Orte im ganzen Land verteilt worden, wo sie in Hotels oder Ferienwohnungen untergekommen seien. Während Wochen habe der Unterricht nur online stattfinden können, manche Schüler seien zu örtlichen Schulen gewechselt.
Dann wurde Glick auf ein leerstehendes Schulgebäude nahe der Stadt Haifa aufmerksam. Dort konnte er fortan Unterricht für all jene anbieten, die in der Nähe untergekommen waren. Damit habe er das Gemeinschaftsgefühl in der Schülerschaft erhalten können, sagt der Schulleiter. Wohl auch deshalb seien nun so viele der Jugendlichen zurückgekehrt. «Jetzt müssen wir sicherstellen, dass sie die Unterstützung bekommen, die sie brauchen.»
Auch an dem Schulgebäude von Shlomi sind die Monate des Krieges nicht spurlos vorübergegangen. «Als ich das erste Mal zurückkehrte, fand ich in jedem einzelnen Raum Schäden vor», erzählt Glick. «Mehrere Raketen sind auf dem Schulgelände eingeschlagen, einmal ist sogar eine Drohne hier abgestürzt, die einen Brand auslöste.» In den vergangenen Wochen hätten deshalb Millionen von Schekeln in Renovationsarbeiten investiert werden müssen. Insgesamt gingen laut den Behörden über 900 Hizbullah-Raketen auf Shlomi nieder, Hunderte Häuser wurden dabei beschädigt.
«Der Krieg gehört zu unserem Leben»
Auch wenn die schiitische Miliz stark geschwächt ist und sich weitgehend aus Südlibanon zurückgezogen hat, bleibt die Bedrohung präsent, zumindest in den Köpfen. «Es ist unheimlich. Ich weiss nicht, ob ich mich sicher fühle. Wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir nach Libanon», sagt die 17-jährige Leah Reuben. Trotzdem freut sie sich, wieder in der Schule zu sein. «Es fühlt sich an wie eine Heimkehr. Wir können wieder atmen.»
Dann erzählt sie vom 16. Oktober 2023, dem Tag der Evakuierung. Ihre Mutter habe ihr gesagt, sie solle nur einen Koffer mitnehmen, spätestens in zwei Wochen seien sie bestimmt zurück. Die Familie lebt heute noch in einem Hotel in der Küstenstadt Haifa, bezahlt von der Regierung. Die Wohnung in Shlomi ist aufgrund der Schäden unbewohnbar. Reuben kommt deshalb mit dem Bus zur Schule. «Am Anfang war es aufregend, in einem Hotel am Meer zu leben, wie in den Ferien», sagt sie. «Doch bald einmal wurde es anstrengend.» Sie selbst wolle unbedingt wieder in Shlomi wohnen, doch ihre Schwester habe Angst. Auch ihre Eltern seien skeptisch.
Bei manchen Jugendlichen hat der Krieg tiefe Spuren hinterlassen. «Viele Schüler haben Ess- oder Angststörungen entwickelt, manche äussern suizidale Gedanken», sagt Danit Haddad, die Schulpsychologin. «Es ist unsere Aufgabe, ihnen Selbstvertrauen zurückzugeben und ihnen ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.» Manche Schüler und ihre Familien würden aus Angst vor einem erneuten Krieg aber wohl nie mehr nach Shlomi zurückkehren.
Wenn Leah Reuben in einigen Monaten die Schule abschliesst, wartet der obligatorische Militärdienst auf sie. Sie wolle zur Sanität und später Ärztin werden. «In Israel wissen schon die Kinder, dass der Krieg zu unserem Leben gehört, dass wir zur Armee gehen müssen», sagt sie. Shahaf Davidovich, ihr Klassenkamerad, pflichtet ihr bei: «Wir haben keine Wahl. Wenn niemand in die Armee geht, dann gibt es kein Israel.»
Der 18-Jährige will dereinst in einer Kampfeinheit dienen und danach einer «sinnvollen Aufgabe für mein Land» nachgehen, vielleicht in der Regierung. Zunächst wird er aber noch einige Monate lang die Schulbank drücken und seine Abschlussprüfungen absolvieren müssen. «Es ist ein gutes Gefühl, wieder hier zu sein. Ich habe lange darauf gewartet. Im letzten Jahr sind wir drei Mal umgezogen, drei Mal habe ich die Schule gewechselt.» Erst wenige Tage vor Schulbeginn ist er mit seiner Familie nach Shlomi zurückgekehrt. Langsam erwacht der Norden Israels wieder zum Leben.