Die Feindseligkeit der USA erschüttert die transatlantische Allianz. Europa fühlt sich erstmals seit Jahrzehnten alleingelassen, belauert von Grossmächten, die sich wie Raubtiere aufführen. Aber es gibt einen Ausweg.
Vor sechs Jahren erregte der amerikanische Aussenpolitikexperte Robert Kagan mit einer düsteren These Aufsehen: «Der Dschungel wächst zurück» lautete der Titel seines Buches, das einen schleichenden Zerfall der liberalen Weltordnung diagnostizierte. Obwohl die Amerikaner diese Ordnung einst selber geschaffen hätten, würden sie deren Wert immer weniger begreifen, beklagte Kagan. Dabei schütze die liberale Weltordnung mit ihren freien Märkten und demokratischen Prinzipien vor dem Rückfall in eine Zeit der ständigen Kriege und des Autoritarismus. Wie ein Garten brauche sie fortwährende Pflege durch eine Ordnungsmacht wie Amerika, sonst nehme der Dschungel – das Sinnbild für die illiberalen Gegenkräfte – überhand.
Kagan wurde seinerzeit als Schwarzmaler hingestellt. Aber in der Rückblende erweist sich seine Warnung sogar als zu milde. Damals herrschte die Sorge, die USA seien ihrer Rolle als Weltpolizist überdrüssig. Heute dagegen besteht das Problem nicht mehr darin, dass Amerika zu müde ist, den Dschungel zurückzudrängen. Die Regierung Trump züchtet diesen Dschungel aktiv heran und ergötzt sich daran, wie er Grundpfeiler der liberalen Weltordnung überwuchert.
Das Prinzip der Unverletzlichkeit staatlicher Grenzen zählt plötzlich nichts mehr. Trump ist der erste amerikanische Präsident seit mehr als hundert Jahren, der unverfroren territoriale Ansprüche auf fremde Ländereien erhebt. Der uramerikanische Gedanke, für die Demokratie in anderen Weltregionen einzutreten, ist ihm völlig fremd. Und mit seinen Strafzöllen gegen die Nachbarn Mexiko und Kanada demonstriert er nicht nur sein Unverständnis für den Nutzen des Freihandels, sondern verletzt auch den Handelsvertrag, den er mit diesen beiden Staaten einst selber abgeschlossen hatte.
Eine tiefe Zäsur
Trump führt sein Land mit einer Mischung aus Klamauk und Kalkül, die das Publikum verwirrt zurücklässt. Was ist nur ein Spuk, was ändert die globalen Spielregeln auf Dauer? Aus der zeitlichen Distanz wird sich dies verlässlicher beurteilen lassen. Doch ein vorläufiger Befund drängt sich auf: Die mit Trumps Wahl verbundene Zäsur ist für Europa viel tiefgreifender, als Optimisten wahrhaben wollten. Wie bei Kagans Dschungel hat sich das Problem dramatisch verschoben.
Es besteht nicht mehr darin, dass die USA die Europäer zu einer faireren Lastenverteilung innerhalb der gemeinsamen Allianz drängen. Diese Diskussion kannte man aus Trumps erster Amtszeit; darauf hatte man sich eingestellt. Es geht um weit mehr. Die USA lassen Europa in einer brandgefährlichen Sicherheitskrise im Stich – und versuchen es sogar mutwillig zu schädigen.
Wem dies zu drastisch klingt, der sollte Folgendes bedenken: Nicht nur verringerten die Amerikaner die Militärhilfe für die Ukraine stark, nachdem sie drei Jahre lang mit den Europäern am selben Strick gezogen hatten. Sie hintergehen ihre Verbündeten auch, indem sie einen Handelskrieg gegen sie anzetteln. Europa wird damit neben der sicherheitspolitischen noch eine sinnlose ökonomische Last aufgebürdet. Obendrein behandelt Trump die Europäische Union wie ein arglistiges Konstrukt. Seine Regierung versucht die Mitglieder der EU gegeneinander auszuspielen und hofiert die illiberalen Parteien des Kontinents – so, wie man dies bis anhin vom russischen Diktator Putin gewohnt war.
Gewiss, schon früher hat es zwischen Amerika und Europa oft gekriselt. «Es ächzt im transatlantischen Gebälk», schrieben die Kommentatoren dann jeweils. Die jetzige Entfremdung ist damit nicht zu vergleichen. Sie reicht tiefer als während der Suezkrise 1956, während des Streits um die atomare Nachrüstung zu Beginn der achtziger Jahre oder beim Zerwürfnis um den amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003. Die Nato, das erfolgreichste Militärbündnis der jüngeren Geschichte, ist in ihrer Glaubwürdigkeit fundamental infrage gestellt. Kaum jemand würde noch darauf wetten, dass Trump im Kriegsfall den Europäern energisch zu Hilfe käme.
Alarmierende Hinwendung zu Russland
Die Ukraine ist nicht Mitglied des Bündnisses, aber für Europas Sicherheit ist zentral, dass sie als souveräner Staat überlebt. Ihre Unterwerfung unter Moskaus Herrschaft würde nicht nur den Appetit des Kremls auf weitere Eroberungszüge anstacheln. Russland hätte damit auch eine stärkere industrielle und militärische Basis, und seine Truppen stünden in Mitteleuropa.
All dies scheint Trump nicht zu bekümmern. «Sie überlebt vielleicht sowieso nicht», sagte er diese Woche schulterzuckend über das Land, das mit seinem Widerstandsgeist die gesamte freiheitliche Welt inspirieren müsste. Er scheint keine Skrupel zu haben, über die Köpfe der Europäer hinweg einen «Deal» mit dem verbrecherischen Putin-Regime abzuschliessen. Dabei wäre es für Amerika kein grosser Kraftakt, die Militärhilfe an die Ukraine weiterzuführen oder gar erheblich auszubauen. Sie kostete bisher weniger als drei Prozent des Pentagonhaushalts und pro Jahr weniger als ein Promille des amerikanischen Bruttoinlandprodukts. Das Argument, dass Amerika kräftemässig überfordert sei, ist haltlos.
Es geht vielmehr um fundamentale strategische Differenzen, auch um ein Zerbröckeln der vielbeschworenen westlichen Wertegemeinschaft. Gibt es «den Westen» überhaupt noch? Der amerikanische Politikwissenschafter Stephen Walt schrieb kürzlich konsterniert: «Amerika ist jetzt Europas Feind.» Walt, einer der bekanntesten Vertreter der sogenannten realistischen Denkschule, war immer ein Verfechter einer knallharten Interessenpolitik. Aber nun rauft selbst er sich die Haare angesichts von Trumps Radikalität.
Trotzdem ist es falsch, den Westen abzuschreiben. Historisch, kulturell und wirtschaftlich sind Amerika und Europa viel enger miteinander verbunden als mit jedem anderen Kontinent. Amerikanische Politik schreitet in Pendelbewegungen voran; die Bilderstürmerei der Trumpianer wird irgendwann wieder ausgewogeneren Tendenzen Platz machen. Zwar dauert die Ära Trump noch Jahre, aber selbst diesem Präsidenten ist die Fähigkeit zu Kurskorrekturen nicht abzusprechen.
Amerika und Europa brauchen sich gegenseitig
Die Chance dazu besteht, wenn auf beiden Seiten des Atlantiks je ein grundlegender Irrtum über Bord geworfen wird. Trumps Illusion besteht im Glauben, die Europäer ihrem Schicksal – und dem aggressiven Imperialismus Russlands – überlassen zu können, ohne Amerikas Eigeninteressen zu schädigen. Folgt man dem konservativen «Wall Street Journal», so sympathisiert er mit einer Weltsicht, in der die USA Dominanz über den amerikanischen Doppelkontinent ausüben, Russland über Europa und China über Ostasien. Doch eine solche Ordnung wäre kaum friedlicher. Wenn Putins Eroberungspolitik Schule macht, wird Peking irgendwann in Taiwan zuschlagen.
Die Amerikaner brauchen Europa, um Chinas globale Machtambitionen einzuhegen. Sie benötigen die Europäer auch aus wirtschaftlichen Gründen. Denn die EU ist für die USA der mit Abstand wichtigste Handelspartner, der grösste Exportmarkt und die bedeutendste Quelle von Auslandinvestitionen.
Aber auch auf europäischer Seite gilt es, eine Illusion zu entsorgen – nämlich jene, dass man Sicherheit ohne die USA oder gar gegen sie erreichen könne. Europa muss die Hauptverantwortung für seine Sicherheit übernehmen, zweifellos. Aber das Ziel sollte nicht in der «Unabhängigkeit von Amerika» bestehen, wie es der deutsche Wahlsieger Friedrich Merz vorschnell formulierte. Eine solche sicherheitspolitische Abkoppelung, welche die Nato obsolet macht, bis hin zu voll ausgebauten europäischen Atomstreitkräften, überfordert Europa ökonomisch – und vermutlich auch politisch: Denn die Gefahr von Streit zwischen den Ländern des Kontinents ist nicht zu unterschätzen, ebenso wenig das Risiko einer Revolte an den Wahlurnen, falls exorbitante Militärausgaben zu einem schmerzhaften Sozialabbau führen.
Das Ziel muss lauten, eine neue tragfähige Grundlage für die transatlantische Allianz auszuhandeln. So schwierig das in der Ära Trump klingen mag, ist es der realistischere Weg.
Europa muss aufrüsten, aber die Nato braucht es weiterhin
Wie könnte ein solcher Tauschhandel aussehen? Die konventionelle Verteidigung Europas wird primär Sache der Europäer. Die USA können ihre Truppenpräsenz auf dem Kontinent – derzeit rund 68 000 Militärangehörige – verringern, falls sie eine Gewichtsverlagerung nach Asien anstreben. Doch ihr atomarer Schutzschirm bleibt erhalten, ebenso kann die Nato auf amerikanische Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung und Logistik zurückgreifen. Zugleich helfen die USA, die Ukraine abzusichern, etwa indem sie auf europäische Rechnung Waffen in grosser Zahl liefern und Russlands Forderung nach einer Abrüstung der ukrainischen Armee ablehnen.
Vorerst ist dies Zukunftsmusik. Umso mehr sollten Europäer und Amerikaner einander keine Brandreden halten, sondern sich schleunigst an den Verhandlungstisch setzen. Lassen sie ihre Allianz verkümmern, so nützt dies nur den Feinden des Westens. Dann wird sich auch der Dschungel weiter ausbreiten – und mit ihm das Recht des Stärkeren, das der vermeintliche Friedenskontinent nach den katastrophalen Erfahrungen aus zwei Weltkriegen und kommunistischer Gewaltherrschaft bereits überwunden geglaubt hatte.