Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan legt langerwartete neue Erzählungen vor. Er beschreibt darin nicht den Krieg, sondern dessen demoralisierende Wirkung auf die Gesellschaft. Doch es gibt Hoffnung in diesem auf unpathetische Weise menschenfreundlichen Buch.
Die frühen Protagonisten des ukrainischen Romanciers, Lyrikers und Musikers Serhij Zhadan wissen vor lauter Kraft und anarchischem Witz nicht, wohin – sind ja so viele Ewiggestrige und noch mehr Bescheuerte unterwegs. Zhadan, Jahrgang 1974, erzählt in den Bänden «Depeche Mode», «Anarchy in the UKR», «Die Erfindung des Jazz im Donbass» oder «Mesopotamien» von seiner Generation. Sie hat in der unabhängigen Ukraine nach 1991, in den Wirren der Transformationszeit keine Chance und nutzt sie dennoch.
Als der Autor vierzig Jahre alt ist, beginnt der unerklärte Krieg Russlands in der Ostukraine, und Zhadan lässt die Sturm-und-Drang-Jahre 2017 im Roman «Internat» hinter sich: Ein Lehrer sucht in einer von Kämpfen heimgesuchten und vor Panik paralysierten ostukrainischen Frontstadt nach seinem Neffen. Das Schreckensszenario zeigt direkt keine Kriegshandlungen, ist aber angstschweissgetränkt. Während sich die Menschen in Kellern verstecken oder hinter Mauern Schutz suchen, fragt sich Pawel, warum er sich das alles antut. Der Neffe ist ihm eigentlich egal. Der träge Lehrer sucht nur nach ihm, damit es nicht der Grossvater tut. Ein unheroischer, gleichgültiger Onkel steht für die Menschlichkeit.
Einsamkeit regiert
Ähnlich diskret und hoffnungsvoll, jedoch noch karger fällt die Geschichtensammlung «Keiner wird um etwas bitten» aus. Wieder erzählt Zhadan, der im letzten Sommer freiwillig in die ukrainische Nationalgarde eintrat, nicht vom Krieg, sondern von dessen Wirkung auf die Gesellschaft. Beim Begräbnis eines Soldaten blickt der Erzähler auf die Ehefrau neben dem Sarg – und auf die Geliebte des Toten, eine Soldatin, in der Kirchenbank vor ihr. Der Priester spricht von Gnade und Erinnerung, aber die Geliebte trösten seine Worte nicht. Gnade wird ihr nicht zuteil, ihre Erinnerungen an den Toten wird niemand je erfahren. Die Trauergäste wissen ja nicht einmal von ihr. Nur der Erzähler.
In den zwölf «Neuen Geschichten», so der Untertitel des Bandes, wirft der Krieg einen langen Schatten: Eine alte Frau stirbt am siebenten Kriegstag in ihrer Wohnung und wird von zwei Männern geborgen, die als «Evakuierer» Menschen aus der belagerten Stadt bringen. Ein Bewerbungsgespräch verläuft erfolgreich, ist aber voller Irritationen, bis am Ende erwähnt wird, dass der künftige Mitarbeiter beim Fronteinsatz durch eine Landmine erblindet ist. Ein Soldat und eine Soldatin treffen sich nach wenigen Chat-Nachrichten nachts in einem kalten Hotelzimmer, fühlen sich jedoch unbehaglich und beschliessen, die seltene Gelegenheit zum Ausschlafen zu nutzen.
Ein oft abwesender Vater sieht mit seinem zwölfjährigen Sohn Tocha, der nach der Flucht seiner Freunde ins Ausland niemanden mehr zum Fussballspielen hat, ein berühmtes WM-Spiel von 1986 und wird von Maradonas Handtor zu einer feurigen Propagandarede motiviert: Maradona habe den Sieg an sich gerissen «wie ein Herz aus einer fremden Brust», und letztlich zähle nur der Sieg. Einsilbig stimmt Tocha zu und fragt, was ihn allein interessiert: «Wann fährst du?»
Die Einsamkeit regiert in Zhadans Erzählungen. Alle Beziehungen sind zerrissen, die neuen noch nicht gefestigt. Soldaten feiern erst ein Hochzeitspaar, dann ein zweites und beginnen, über ihr eigenes Leben nachzudenken. Es ist «dortgeblieben – auf der anderen Seite jenes Winters, der vor zwei Jahren zu Ende war, vom eigenen Leben war nichts geblieben, ausser dieser lärmenden, unerträglichen Bande. Also musste man zusammenhalten, sonst gab es nichts, woran man sich klammern konnte.»
Schmucklos und einfach wirken die Geschichten, karg ist ihre Sprache. Doch Rückblenden und Reflexionen sind präzis eingesetzt, kein Wort ist zu viel, die Unterhaltungen sind strikt auf den Anlass und die Gegenwart bezogen. An die «andere Seite jenes Winters, der vor zwei Jahren zu Ende war», wird besser nicht allzu oft erinnert.
Das Wetter verbindet
Schönheit ist nur noch in der Natur. Die Sonne, der kommende Sommer und der endende Sommer feiern grosse Auftritte in den Erzählungen, ebenso tut es der in der Luft herumwirbelnde Staub. Auch die Temperatur entgeht dem Erzähler nicht. Das Wetter verbindet, weil es nicht in der Macht der Menschen steht, die Auseinandergerissenen, Unverbundenen miteinander.
Und dann gibt es doch noch Hoffnung in diesem auf kluge und unpathetische Weise menschenfreundlichen Buch. Serhij Zhadan verlegt sie in eine Klammer, die «Keiner wird um etwas bitten» zusammenhält. Die erste Geschichte über die einsam gestorbene alte Frau endet mit dem Blick eines der beiden Evakuierer auf ein Foto, auf dem sie als junge Frau in die Zukunft blickt. Dort, heisst es, lägen «ein langes Leben», «gleichmässig gefüllt mit Gut und Böse», und der Tod, der sie nun ereilt habe.
In der letzten Geschichte bringen die Evakuierer Hilfsgüter zu Kindern, die ohne Eltern in einer heruntergekommenen Baracke hausen, und fotografieren die Schar vor der Abfahrt. Wieder wird ein Foto beschrieben, eine eingefrorene Gegenwart: «Sie schauen in die Zukunft, sehen irgendwas. Etwas, was man nicht erkennen kann, wenn man sich nicht an ihre Stelle versetzt. Etwas Langandauerndes, Kompliziertes, voll Schmerz, voll Freude. Etwas, an dem man andere nicht teilhaben lässt. Etwas, dem man nicht entgehen kann. Etwas, das nicht froh macht. Das aber auch keine Angst einjagt.»
Serhij Zhadan: Keiner wird um etwas bitten. Neue Geschichten. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 166 S., Fr. 34.90.