Wie alt kann ein Wein werden? Überragende Fähigkeiten besitzen Bordeaux und Cabernet-Sauvignon-Gewächse aus Kalifornien. Das hat eine eindrucksvolle Degustation im Rahmen eines NZZ-Weinabends gezeigt.
Der Grossteil der weltweit produzierten Weine muss in den ersten zwei, drei Jahren nach der Ernte genossen werden. Nur wenige Crus besitzen die Fähigkeit, über Jahrzehnte zu reifen und an Vielschichtigkeit zuzulegen. Die besten Bordeaux besitzen prinzipiell das beste Alterungspotenzial. Aber auch Cabernet-Sauvignon-Gewächse aus Kalifornien können nach zwanzig und mehr Jahren einzigartige Genusserlebnisse bieten.
Dies hat ein NZZ-Weinabend, der kürzlich stattgefunden hat, bewiesen. Der Weinfreak, Weinsammler und Weinexperte Jürg Richter hat aus seinem Keller einige gereifte Legenden präsentiert. Schwierig, einen Favoriten zu bestimmen. Aber mich faszinierte vor allem der aus der Magnum ausgeschenkte Château Lynch-Bages 1982 aus der Bordeaux-Appellation Pauillac. Er hat ein sehr edles, perfekt gereiftes Bouquet, ist dicht, elegant, harmonisch und sehr lange nachhallend.
Cabernet Sauvignon macht in diesem hervorragenden Jahr mit 70 Prozent den Hauptanteil aus. Merlot und etwas Cabernet Franc sowie Petit Verdot vervollständigen die Cuvée. Ältere Weine sind allenfalls noch auf Auktionen erhältlich.
Perfekte gereifte Spitzenweine
Lynch-Bages, ein 5ième Grand Cru Classé, wurde mit Château Mouton-Rothschild 1990, einem Premier aus Pauillac, verglichen – ein sehr guter, aber etwas leichter Wein, der ebenfalls aus einem Spitzenjahr stammt. Es zeigte sich einmal mehr, dass der Höherklassierte nicht immer die Nase vorn hat. Der Mouton 1990 besteht zu 81 Prozent aus Cabernet Sauvignon. Merlot und Cabernet Franc ergänzen die Cuvée.
In der zweiten Bordeaux-Serie standen sich Château La Mission Haut-Brion 1985 aus dem Pessac-Léognan sowie Château Latour 1970 aus dem Pauillac gegenüber. Ersterer fiel gegenüber dem berühmten Premier Grand Cru Classé nicht ab – ganz im Gegenteil. La Mission Haut-Brion ist perfekt gereift, strahlt eine perfekte Harmonie aus und besitzt weiteres Potenzial für zwanzig Jahre. Latour hatte zuerst etwas Mühe, weil sich die Nase eher verschlossen und etwas muffig zeigte. Mit Luft öffnete sich das Bouquet. Perfekt dafür der Gaumen: kraftvoll, strukturiert, reife Gerbstoffe, balanciert und lang anhaltend.
Die erste Serie mit kalifornischen Weinen aus dem Napa Valley war ein Duell zwischen Montebello 1995 von Ridge und Opus One 1994, einem Projekt von Robert Mondavi und Mouton-Rothschild aus dem Pauillac. Beide Weine präsentierten sich erst am Anfang ihrer Genussreife und besitzen weiterhin ein grosses Reifepotenzial. Montebello, bestehend aus 69 Prozent Cabernet Sauvignon, 18 Prozent Merlot, 10 Prozent Petit Verdot und 3 Prozent Cabernet Franc, ist intensiv in der Aromatik, kräftig, komplex, zeigt aber auch eine sehr schöne Eleganz. Opus One brilliert mit perfekter Textur, ist reichhaltig, kraftvoll, intensiv und lang anhaltend. Die Tannine sind perfekt integriert, die Säure ist eher moderat.
Die zweite Serie sah den jüngsten Wein der Probe, nämlich den VHR Cabernet Sauvignon 2015 von Vine Hill Ranch. Die zehn Jahre merkt man ihm überhaupt nicht an. Der Wein ist massiv, konzentriert, kräftig, besitzt viel Tannin, das jedoch überhaupt nicht adstringierend ist. Das Potenzial beträgt dreissig oder noch mehr Jahre. Weiter fortgeschritten ist der Kultwein Martha’s Vineyard 1997 von Heitz Cellar. Trotzdem lohnt es sich, den hundertprozentigen Cabernet Sauvignon weiter reifen zu lassen. Die Anlagen sind herausragend: vielschichtiges, intensives Bouquet von dunklen Früchten, würzigen Schokoladennoten und Minze-Anklängen, kraftvoll im Gaumen, komplex, reichhaltig und lang anhaltend.