Keine Überraschung im Bundesrat: Martin Pfister übernimmt das Verteidigungsdepartement. Sein früherer Chef lässt die besondere Geschichte des Departements Revue passieren und zieht Bilanz.
Mit dem Eroberungskrieg Russlands gegen die Ukraine stieg das VBS in der Hierarchie der Departemente in die erste Liga auf. Auch die Verwerfungen in der Geopolitik durch die Präsidentschaft Trump rücken das Verteidigungsdepartement ins Scheinwerferlicht. Die Schweiz muss ihren Platz in den internationalen Beziehungen, vor allem im sich enger zusammenschliessenden Europa, neu justieren, eine aktuelle Bedrohungsanalyse erstellen und die Verteidigungsfähigkeit den neuen Realitäten anpassen.
Das sind Kernaufgaben des neuen VBS-Vorstehers Martin Pfister. Selbstverständlich bleibt die Verantwortung beim Gesamtbundesrat. Nur so kann die Landesregierung Vertrauen und Glaubwürdigkeit in der verunsicherten Bevölkerung gewinnen – was wiederum Einigkeit im Kollegium voraussetzt. Ein Blick in die Geschichte kann hilfreich sein.
Bei der Gründung des Bundesstaats 1848 nahm das Eidgenössische Militärdepartement (EMD) nach dem Sonderbundskrieg eine zentrale Position ein. Wie die Regierungen der europäischen Staaten heute, hatte der Bundesrat damals beim Aufbau einer nationalen Armee gegen föderalistische Widerstände zu kämpfen. Erst der Deutsch-Französische Krieg von 1871 machte die enormen Defizite sichtbar, so dass es dem Bundesrat gelang, 1875 eine wirklich nationalstaatliche Militärorganisation zu schaffen.
Hohes Sozialprestige der Armee
Grosse Verdienste erwarb sich Emil Welti. Ab 1867 gehörte er dem Bundesrat 25 Jahre lang an und dominierte ihn in dieser Zeit. Nach seinem Wechsel ins Infrastrukturdepartement der Eisenbahnen setzten erfahrene Militärtechnokraten wie die Bundesräte Johann Jakob Scherer und Wilhelm Friedrich Hertenstein – beide vorher Nationalräte, Oberste und Zürcher Regierungsräte – die Aufbauarbeit fort. Dies liess das Militärbudget anschwellen und löste innenpolitische Konflikte aus.
Gern geht vergessen, dass die Armee neben ihrer Kernfunktion, die Unabhängigkeit und territoriale Integrität des Landes zu schützen, auch im Innern wichtige Aufgaben wahrnimmt. Im 19. Jahrhundert machte die in der Verfassung verankerte allgemeine Wehrpflicht das EMD zur «Schule der Nation». Für die Entstehung des Nationalbewusstseins hatte die Armee enorme Bedeutung, der Militärdienst brachte Schweizer verschiedener Sprachen und Konfessionen, vorab in den Armeestäben, zusammen.
Vor diesem national-pädagogischen Hintergrund erfreute sich das EMD über ein hohes Sozialprestige. Am Festumzug der 600-Jahr-Feier des eidgenössischen Bundes 1891 in Schwyz marschierte der EMD-Vorsteher nicht in der Dreierdelegation des Bundesrats, sondern separat und in Uniform an der Spitze der Truppenführer.
Hinzu kam, dass der Bundesrat für die Wahrung von Ruhe und Ordnung im politisch bewegten 19. Jahrhundert mehrfach Truppen aufbot – so etwa im Tessin 1890, wo der letzte Staatsrat bei einem Staatsstreich ermordet wurde. Auch beim Generalstreik 1918 wurden massiv Truppen mobilisiert.
Viel Glück im Zweiten Weltkrieg
Nie war die Rolle des EMD so existenziell wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts während der beiden Weltkriege. 1914 brach der «Grosse Krieg» in Europa aus, in den die Grossmächte hineingeschlittert waren. Die Schweiz gab 1914 eine Neutralitätserklärung ab, im Alltag aber sympathisierten die Deutschschweizer mehrheitlich mit dem Deutschen Reich, die Romands und die Italienischsprachigen mit Frankreich. Es war für das Land ein Glücksfall, dass damals der Waadtländer Camille Decoppet das EMD führte.
Das Ende des Ersten Weltkriegs wurde zur Zäsur. Auf dem steinigen Weg zu einem regelbasierten, vom Völkerrecht geordneten, multilateralen Staatensystem setzten sich die Bundesräte Gustave Ador und Giuseppe Motta aktiv für den Völkerbund ein, der sich in Genf niederliess. Der Aufstieg des Faschismus in Italien und des Nationalsozialismus in Deutschland beendete abrupt die kurze Friedensphase und führte in den von Hitler-Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieg.
Trotz dem populären Bundesrat Rudolf Minger an der EMD-Spitze gelang der Schweiz erst spät eine Aufrüstung der Armee, die auch bei Kriegsausbruch mangelhaft war. Durch den Weltkrieg schlängelte sich das Land mit viel Glück und einer äusserst flexiblen Neutralitätspolitik.
Nach dem Abstieg verliert die FDP das Interesse
Es folgte der Kalte Krieg. 1966 musste wegen der Mirage-Affäre der FDP- Bundesrat Paul Chaudet auf Druck der eigenen Partei vorzeitig zurücktreten. Seit Mitte der 1960er Jahre veränderte ein Kultur- und Wertewandel die Gesellschaft fundamental. In der jungen Generation verbreitete sich wachsendes Misstrauen gegen die Armee und kulminierte in der GSoA-Initiative 1989.
Das EMD führte Reformen durch, gab sich ein neues Profil sowie den heutigen Namen «Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport». Auf der rechten Seite des Parteienspektrums mobilisierte die Migrations- und Europapolitik die Menschen, die SVP stieg zur stärksten Partei auf. Um die gleiche Zeit stimmte das Schweizervolk den bilateralen Verträgen mit der EU und dem Uno-Beitritt (2002) zu. Die Schweiz schloss sich auch dem Nato-Projekt «Partnership for Peace» an.
Ab Mitte der 1980er Jahre nahm die politisch-gesellschaftliche Bedeutung des VBS ab. Das hatte auch im Bundesrat Folgen. Wer in einem andern Departement Schwierigkeiten hatte, wurde bei Rochaden zuweilen ins VBS verschoben. Es wurde zu einem Einsteiger-Departement, was häufige Wechsel zur Folge hatte.
Die FDP, die seit 1848 mit Ausnahme von Rudolf Minger (BGB/SVP) in den 1930er Jahren das Monopol an der Spitze des EMD innehatte, verlor das Interesse. 1987 übernahm erstmals die CVP das Departement – mit Arnold Koller, der es aber nach kurzer Zeit wieder verliess. Der SP gelang es bisher, das von ihr ungeliebte Militärdepartement zu meiden. Am häufigsten leiteten SVP-Bundesräte in neuerer Zeit das VBS.
Erst der zweite Historiker
Die Gegenwart war durch den Sturz des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1989 und in dessen Folge durch eine Friedenseuphorie geprägt. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums löste in Russland revisionistische Träume aus und führte 2014/2022 zu einem ersten grossen Krieg an den Grenzen Europas.
Der neue VBS-Vorsteher Martin Pfister steht neben der engeren Departementsführung mit neuem Personal vor Herkulesaufgaben: Neudefinition des Platzes der Schweiz in Europa, neue Bedrohungs- und Sicherheitsanalysen, starke Aufrüstung und so weiter. Als ehemaliger Regierungsrat beherrscht er die Regeln eines konkordanten Regierungskollegiums, als früherer Oberst kennt er die Sitten und Reglemente in der Armee.
Ausserdem bringt er eine im Bundesrat seltene Grundausbildung mit. Er ist nach Georges-André Chevallaz (1974–1983) meines Wissens erst der zweite Historiker im Bundesrat. Mit seinem Studium und einer fünfjährigen Forschungsassistenz bringt er Wissen zur Schweizer Geschichte und Politik in das Siebnerkollegium, das gerade in Zeitenwenden von Nutzen sein kann.
Urs Altermatt, em. Professor für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg, deren Rektor er auch war. Der neue Bundesrat Martin Pfister war bei ihm in den 1990er Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig.