Der Tech-Riese hat trotz Sanktionen bei einigen Schlüsseltechnologien gewaltige Fortschritte gemacht. Er hinkt seinen US-Konkurrenten aber weiterhin hinterher, wie sich bei einem Augenschein in Südchina zeigt.
Der Campus von Huawei in Shenzhen ist ein weitläufiges Areal, durchzogen von gepflasterten Wegen. Sattes Grün links und rechts verleiht dem Campus das Flair eines riesigen Parks. Menschen sind kaum zu sehen, überall herrscht Stille.
In der Ferne sind die Umrisse mächtiger Gebäude zu erkennen: Die Verwaltung, das Marketing, die Kantine, auch Forschungsabteilungen sind hier untergebracht. Innen verströmen die Bauten gediegenen Luxus. Es dominieren dunkles Holz, Marmor und wuchtige Kronleuchter.
Rund 30 000 Menschen arbeiten bei Huawei in Shenzhen, ein grosser Teil von ihnen in der Entwicklung. Und die Führung des Tech-Konzerns will sie offenbar permanent in Alarmbereitschaft halten: In der Mitte des Campus liegt ein grosser See; nicht weit entfernt vom Ufer ziehen zwei schwarze Schwäne ihre Bahnen. «Eine ständige Mahnung an das, was plötzlich kommen kann», erklärt eine Mediensprecherin des Konzerns. Das Firmengelände markiert gewissermassen die Frontlinie im Technologiekrieg mit den USA.
Dann tauchte der schwarze Schwan auf
Im Jahr 2019 wurde aus der symbolischen Warnung plötzlich Realität. Unter der Führung des amerikanischen Präsidenten Donald Trump verhängten die USA auf einmal weitreichende Technologie-Sanktionen gegen China. Huawei, ein Unternehmen, das in den USA unter Spionageverdacht steht, wurde für die Amerikaner rasch zum Feindbild Nummer eins im Technologiekrieg der beiden Supermächte.
Der Konzerngründer Ren Zhengfei, der mit seinen 80 Jahren Huawei noch immer als CEO führt, verschickte damals im Stakkato Memos an die Belegschaft. Der Tenor: Huawei sei von nun an auf sich allein gestellt, der Konzern müsse jetzt alle Kräfte bündeln, eigene Technologien und Anwendungen entwickeln.
Huawei zog innerhalb von Tagen Entwickler von weniger kritischen Projekten ab und schickte sie in Abteilungen für die Entwicklung von Schlüsseltechnologien. Dazu gehören auch Hochleistungsspeicherchips. Bis anhin hatte der Konzern diese im Ausland bezogen. Jetzt mussten die Chinesen sie selbst entwickeln.
«Hungrig wie Wölfe»
Bei Huawei machten sie nun Überstunden. Während der 1990er und 2000er Jahre impfte Ren seinen Mitarbeitern ein ganz besonderes Arbeitsethos ein: Wer für den Konzern arbeiten wolle, müsse «hungrig wie ein Wolf» sein. Viele Mitarbeiter hatten in ihren Büros Matten, auf denen sie nach einem langen Arbeitstag schliefen. Bekannt wurde die Praxis als «Mattenkultur». So extrem ist die Betriebskultur heute nicht mehr.
Die Anstrengungen, mit denen sich Huawei gegen die Folgen der amerikanischen Sanktionen stemmte, waren aber zumindest in Teilen erfolgreich. Bei der Entwicklung von Chips etwa hat Huawei in den vergangenen Jahren kräftig aufgeholt.
Als Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping Mitte Februar in Peking die Chefs der führenden Tech-Konzerne um sich versammelte, stand Ren in der ersten Reihe. In blumigen Worten beschrieb der Huawei-Gründer die Fortschritte. Die früheren Sorgen, dass China «arm an Chips» sei, hätten sich inzwischen verflüchtigt, sagte Ren, der Aufstieg Chinas werde sich beschleunigen.
Huawei ist es gelungen, den Ertrag bei der Fertigung seines neuesten KI-Chips auf 40 Prozent zu steigern. Das bedeutet, dass 40 Prozent der produzierten KI-Chips voll funktionsfähig sind. Vor einem Jahr hatte die Rate noch bei 20 Prozent gelegen. Das neueste Modell, der Ascend-910C-Prozessor, ist deutlich leistungsfähiger als das Vorläufermodell 910B, kommt allerdings bei der Performance noch nicht ganz an die modernsten KI-Chips von Nvidia heran.
Doch immerhin ist die Produktionslinie für den Huawei-Ascend-Chip erstmals profitabel. In den kommenden Jahren will das Unternehmen den Ertrag bei der Chipproduktion auf 60 Prozent steigern.
Abnabelung von Android
Auch bei der Entwicklung eines eigenen Betriebssystems ist der Konzern ein gutes Stück vorangekommen. Im vergangenen Herbst lancierte Huawei das System Harmony OS Next. Mit dem Schritt ist die Abnabelung vom Betriebssystem Android des Google-Konzerns vollzogen, Huawei ist unabhängig vom Rivalen USA.
Allerdings hat das Betriebssystem von Huawei zwei gravierende Defizite. Zum einen arbeitet es langsamer als Android. Denn die Performance des verbauten Chips kommt nicht ganz an diejenige der ausländischen Konkurrenz heran.
Zum anderen laufen viele, vor allem von westlichen Anbietern entwickelte Apps auf Harmony OS Next nicht. Damit dürften sich die Handys von Huawei zum Beispiel in Europa schwer verkaufen lassen.
Huaweis Handys lassen sich im Ausland kaum verkaufen
Seit Einführung der Tech-Sanktionen durch die USA kommt Huawei bei Smartphones ausserhalb Chinas ohnehin nur noch auf einen Marktanteil von 0,3 Prozent. In China ist der Anteil dagegen im vergangenen Jahr im Vergleich zum Vorjahr um fünf Prozentpunkte auf 17 Prozent gestiegen. Huaweis Abhängigkeit vom Heimatmarkt wächst.
Ein PR-Coup gelang dem Konzern im vergangenen Herbst. Da nämlich stellte der Konzern sein neustes Mobiltelefon, das Mate XT, vor. Es ist das weltweit erste «Klapp-Handy», das aus drei Teilen besteht, sich also zweimal falten lässt.
Doch ob das schicke Gerät ein wirtschaftlicher Erfolg wird, ist mehr als fraglich. Im Februar lancierte Huawei das Mate XT ausserhalb Chinas – zum stolzen Preis von 3499 Euro. Es gilt als unwahrscheinlich, dass die Menschen zugreifen, zumal auch dieses Gerät viele Apps aus dem Ausland nicht unterstützt. In China kostet das Gerät immer noch umgerechnet 2400 Franken.
«Es hat noch nicht wirklich abgehoben», sagt der Amerikaner Jeff Towson, IT-Experte und Investor, der ein Buch über Huawei geschrieben hat: «Ich glaube, sie wollten einfach die Menschen beeindrucken.»
Vorführung in der «Darwin»-Halle
Seine neuesten Anwendungen, unter anderem im Bereich künstlicher Intelligenz, führt Huawei Besuchern in einem Raum mit einem Namen vor, der viel über die Betriebskultur des Konzerns aussagt.
Die «Darwin»-Halle ist ein riesiger mit dunklem Teppich ausgelegter Raum. An den Wänden hängen Bildschirme mit Grafiken von 5G-Netzen, dem nach wie vor wichtigsten Geschäftsfeld des Unternehmens. Hinter Glasscheiben stehen Modelle von schweren Lkw, die sich durch einen Kohle-Tagebau pflügen. Etwas weiter sind Router und Antennen für schnelle Datenübertragung aufgebaut.
Um dem Besucher die verschiedenen Anwendungen und Lösungen zu erklären, hat Huawei zwei Mitarbeiter amerikanischer Herkunft abgestellt. Stolz führen die beiden Männer die neuesten 5G-Antennen und Router des Konzerns vor.
Huaweis Geschäft mit Telekom-Providern wächst kaum noch. Jetzt wollen die Chinesen ihren Kunden dabei helfen, ihr Geschäft auszubauen. «Es geht darum, die Bandbreite zu steigern, damit mehr Daten durch die Leitungen fliessen», erklärt einer der Führer und kommt dem Besucher dabei ganz nah. Der Mann spricht in einem beschwörenden Ton, die Worte mehr geflüstert als gesprochen.
Suche nach neuen Einsatzmöglichkeiten der 5G-Technologie
Doch der Konzern sucht nicht nur ständig nach Wegen, die Leistungsfähigkeit von 5G-Netzen zu steigern, sondern arbeitet auch daran, neue Einsatzmöglichkeiten der Technologie zu erschliessen, teilweise unterstützt von künstlicher Intelligenz. Weltweit arbeiten inzwischen 40 Prozent aller 5G-Netze mit Ausrüstungen von Huawei.
So hat der Konzern eine Lösung entwickelt, mit deren Hilfe bei Notfalleinsätzen Patientendaten aus der Ambulanz in Echtzeit ans Spital übertragen werden. Eine andere, KI-unterstützte Anwendung steuert autonom fahrende Trucks in Bergwerken, in denen der Einsatz von Menschen zu gefährlich ist.
Hinter solchen Entwicklungen steht eine Armada an hoch qualifizierten Forschern. Gemäss dem Geschäftsbericht aus dem Jahr 2023 arbeiten 114 000 Mitarbeiter des Konzerns in der Forschung und Entwicklung. Dies entspricht einem Anteil von 55 Prozent. Fast einen Viertel seines Umsatzes wendet Huawei für seine Forschungsaktivitäten auf.
Rund 30 000 weitere Tüftler in Schanghai
Derzeit baut Huawei in Schanghai ein neues Forschungszentrum. Dort sollen noch einmal rund 30 000 Tüftler an neuen Produkten und Lösungen arbeiten. «Huawei ist nicht nur eine Tech-Firma, sondern auch eine Human-Resources-Firma», sagt der Experte Towson.
Die Jobs bei Huawei sind heiss begehrt, doch der Konzern stellt hohe Anforderungen. Erfolgreiche Bewerber müssen sich durch sechs Interviewrunden kämpfen. Wer den Bewerbungsmarathon übersteht, kann allerdings mit einem überdurchschnittlich hohen Salär rechnen.
In Dongguan bekommt der Nachwuchs den letzten Schliff
Auf dem Huawei-Campus in Dongguan, etwa eine Autostunde von Shenzhen entfernt, bekommt der Nachwuchs den letzten Schliff. Lehrer bringen den Neulingen die Geschichte Huaweis und die Werte des Unternehmens nahe, ausserdem lernen sie Selbstreflexion, wie die Mediensprecherin erklärt.
Die Idee für den im Jahr 2018 eröffneten Campus hatte Konzerngründer Ren. Für rund zwei Milliarden Dollar liess er zwölf verschiedene Gebäudegruppen im Stil europäischer Städte errichten. Inmitten der weitläufigen Parklandschaft steht etwa ein Nachbau des Schlosses in Heidelberg, etwas weiter eine Kopie der Cité Internationale Universitaire de Paris, ausserdem finden sich hier Nachbauten markanter Gebäude aus Bologna, Verona, Tallinn und Budapest.
Auch die Schweiz stand Pate bei der Errichtung des Campus. Besucher werden mit einem Tram im Stil der Jungfraujoch-Bahn durch das weitläufige Gelände gefahren. Menschen sind während der Erkundungsfahrt keine zu sehen. «Sie arbeiten alle in ihren Büros», betont die Mediensprecherin mehrmals.
Die Fahrt endet an einer Bibliothek, die in ihren Formen und Ausmassen an eine französische Kathedrale erinnert. Rund 110 000 Bücher, davon 40 000 in ausländischen Sprachen, stehen in den Regalen. Es gibt Bände über europäische Geschichte oder französische Literatur.
Doch offenbar ist das Interesse an den Bildungsangeboten überschaubar. An einem Spätnachmittag Ende November ist die Bibliothek menschenleer. Es ist ein Sinnbild für Huaweis Lage: Der Konzern hat sich technologisch beeindruckend entwickelt, doch es bleibt zweifelhaft, ob er aus seiner internationalen Isolation ausbrechen und sein Zielpublikum wieder finden kann.