Bei den geplanten Verträgen mit der Europäischen Union sind die Ausgleichsmassnahmen eine grosse Unbekannte. Der neue Mechanismus sei für die Schweiz ein Vorteil, sagt der Jurist Thomas Cottier.
Die Schweiz übernimmt schon heute viel europäisches Recht. Mit den revidierten und neuen bilateralen Verträgen mit der EU wäre sie aber dazu verpflichtet – nicht automatisch, aber nach verbindlichen Spielregeln und innerhalb einer gewissen Frist. Betroffen sind fünf bestehende Abkommen (Personenfreizügigkeit, Land- und Luftverkehr, Landwirtschaft, technische Handelshemmnisse) sowie neue Verträge wie beim Strom, über die die Schweiz am Binnenmarkt teilnimmt.
Doch es gibt einen Mechanismus, der es dem Parlament oder dem Stimmvolk ermöglicht, einen Rechtsakt nicht oder nicht ganz zu übernehmen – selbst wenn die Schweiz dies müsste. Die EU könnte in diesem Fall Ausgleichsmassnahmen ergreifen. Ein unabhängiges Schiedsgericht würde entscheiden, ob diese verhältnismässig sind.
In der Schweiz können sich viele wenig darunter vorstellen. Das Verfahren ist für die Bilateralen mit der EU ein Novum, mit Ausnahme des Versicherungsabkommens. Einer, der mit internationalen Schiedsverfahren vertraut ist, ist Thomas Cottier. Er befürwortet eine Annäherung an die EU und präsidiert die europafreundliche Gruppierung «Die Schweiz in Europa».
Der emeritierte Professor für Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht war in der Welthandelsorganisation (WTO) wiederholt als Schiedsrichter tätig, unter anderem in einem Streit zwischen China und der Europäischen Union. Das geplante Modell sei näher beim Konzept der WTO als bei jenem des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR), sagt Cottier. Beim EWR gibt es ein ähnliches Modell, das allerdings noch nie zur Anwendung gekommen ist.
Der neue Mechanismus sei ein grosser Vorteil für die Schweiz, sagt Cottier. «Es wird Waffengleichheit geschaffen, obwohl die EU die stärkere Partnerin ist.» Die Schweiz hätte die Möglichkeit, Ausgleichsmassnahmen der EU anzufechten. Heute sei sie politischen Massnahmen Brüssels, etwa den Nadelstichen gegen die Schweizer Hochschulen oder Medizinaltechnikfirmen, schutzlos ausgeliefert.
Sozialleistungen nicht mehr anerkennen
Doch wie könnte eine Ausgleichsmassnahme der EU aussehen? Das grösste Streitpotenzial birgt das Freizügigkeitsabkommen (FZA), nach der starken Zuwanderung in der Schweiz in den letzten Jahren erst recht. Die Grundidee der Ausgleichsmassnahmen ist es, die Rechte und Pflichten einer Partei wieder ins Gleichgewicht zu bringen und Anreize für ein regelkonformes Verhalten zu schaffen. «Das Ziel ist, dass es weh tut», sagt Cottier.
Wenn die Schweiz befristet die Personenfreizügigkeit einschränke, könne die EU vorübergehend Rechte der Auslandschweizer aussetzen, sagt Cottier. Denkbar wäre, dass Auslandschweizer von gewissen Sozialleistungen ihrer EU-Wohnsitzländer ausgeschlossen würden. Der freie Personenverkehr funktioniert nur richtig, weil die Schweiz und die EU-Staaten ihre nationalen Sozialversicherungen koordinieren. «Von der Massnahme wären rund eine halbe Million Auslandschweizer betroffen», sagt Cottier. Das würde innenpolitisch Druck schaffen – zumal die Auslandschweizer eine schlagkräftige Lobby haben.
In der WTO gibt es ein Kaskadenmodell. Jene Partei, die Ausgleichsmassnahmen ergreife, müsse dies zunächst im betroffenen Bereich tun, sagt Cottier. Für die Schweiz wäre dies ein Vorteil, da sich die meisten Streitigkeiten um die Personenfreizügigkeit drehen dürften. Gemäss den vorliegenden Informationen sehen die EU-Verträge jedoch vor, dass Ausgleichsmassnahmen auch in anderen Bereichen von Binnenmarktabkommen möglich sind – nicht aber bei der Forschung oder der Börse.
Bern hat aber Ausnahmen ausgehandelt. So ist die Landwirtschaft weitgehend von den Ausgleichsmassnahmen ausgenommen. Bei der Schutzklausel zur Zuwanderung ist vorgesehen, dass die EU nur innerhalb des FZA Einschränkungen verfügen darf – sofern ein Schiedsgericht bejaht, dass die Voraussetzungen für die Anrufung gegeben sind.
Neu könnte auch die Schweiz Ausgleichsmassnahmen gegen die EU verhängen, etwa falls sich diese weigert, das Abkommen über die technischen Handelshemmnisse oder den Landverkehr zu aktualisieren – ohne dass der Streit komplett eskaliert. Denkbar sei, dass die Schweiz den Durchgangsverkehr durch die Alpen beschränke, sagt Cottier.
Eine wichtige Frage ist, wie das Schiedsgericht beurteilt, ob Ausgleichsmassnahmen verhältnismässig sind. Cottier räumt ein, dass es einen gewissen Ermessensspielraum gebe. Im Vordergrund stehe, ob es keine Massnahme gebe, die weniger einschneidend sei, aber den Zweck ebenfalls erfülle. Die Partei, die vor dem Schiedsgericht gegen Ausgleichsmassnahmen klage, müsse aufzeigen, dass diese zu weit gingen und grösseren Schaden anrichteten als der Entscheid der Gegenseite, auf den sie reagierten.
Kulturwandel nötig
In der Schweiz hat das politische Austragen von Konflikten traditionell Vorrang vor der rechtlichen Streitbeilegung. Das erklärt, weshalb Bern in den Verhandlungen mit der EU möglichst jede Frage bis ins Komma klären wollte. «Das Hauptproblem ist, dass wir wenig Erfahrung mit Schiedsverfahren haben», sagt Cottier. Spezialisierte Anwaltsbüros gebe es kaum. Im Vergleich mit anderen Staaten sei die Schweiz eine Anfängerin.
So hat sie in der WTO noch nie ein Verfahren gegen die EU geführt, auch nicht im Steuerstreit. Eine Ausnahme sind die Strafzölle auf Stahl und Aluminium unter der ersten Administration von Donald Trump, die Bern mit anderen Staaten vor der WTO anfocht. Cottier fordert einen Kulturwandel. Die Schweiz müsse Schiedsverfahren aktiver nutzen. Nur so lerne sie, das Instrument anzuwenden.