Sklaverei ist unmoralisch. Aber warum dauerte es Jahrhunderte, bis sie abgeschafft wurde? Der Philosoph Thomas Nagel beschreibt, was es braucht, damit sich Moral in einer Gesellschaft durchsetzen kann.
Gibt es moralischen Fortschritt? Wer daran zweifelt, dem sei die Lektüre des neuen Buchs von Thomas Nagel empfohlen. Der amerikanische Philosoph vertritt einen normativen Ansatz: Er geht davon aus, dass es moralische Zustände gibt, die objektiv besser sind als andere. Deren Entstehung verdankt sich seiner Ansicht nach meist politischen oder institutionellen Entwicklungen. Und der langsam fortschreitende Prozess, die jeweils gängigen Praktiken durch andere zu ersetzen, erfolgt durch «weit verbreitete Einstellungsänderungen in grossen Bevölkerungsgruppen».
Um seine theoretischen Aussagen zu veranschaulichen, führt Nagel Beispiele an: die Abschaffung der Sklaverei, die Ersetzung der Aristokratie durch Volkssouveränität, die Zunahme religiöser Toleranz und Meinungsfreiheit, der Verzicht auf grausame Bestrafung, die Emanzipation der Frauen, die Ächtung der Rassendiskriminierung, der Versuch, sozioökonomische Chancengleichheit herzustellen, die Verteidigung sexueller Freiheiten, der schonendere Umgang mit Tieren.
Moralische Wahrheit
So weit, so gut. Nur, weshalb hat sich das moralisch Bessere nicht schon früher durchgesetzt – etwa die Abschaffung der Sklaverei? Thomas Nagel argumentiert, dass die Beweggründe, etwas zu unterlassen, um anstelle dessen etwas anderes zu tun, historisch gewachsen sein müssen.
«Moralische Wahrheit», schreibt Nagel, «muss auf Gründen ruhen, die für all jene Individuen, für die sie gelten, zugänglich sein müssen, und eine solche Zugänglichkeit hängt von historischen Entwicklungen ab.» Der Fortschritt der Moral ist für ihn also «pfadabhängig»: Bestimmte Stadien müssen durchlaufen sein, damit die Einsicht in die Verbesserung möglich ist. Das «Sollen» setzt ein «Können» voraus.
Auf kompakten hundert Seiten geht das Buch «Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt» grundlegenden Fragen nach. Im Fall der Homosexualität beispielsweise vertritt der Autor die Auffassung, dass es nicht an der Zugänglichkeit der Gründe lag, dass sie noch bis in die jüngste Vergangenheit auch im Westen nicht toleriert und anerkannt wurde.
Zugängliche Gründe können konterkariert werden. Etwa durch die «Sturheit, Unaufrichtigkeit oder Selbsttäuschung» der Menschen, wie Nagel sagt. Während für bestimmte moralische Einsichten ein bestimmtes Niveau der historischen Entwicklung notwendig ist, gibt es also auch Bereiche, die selbst dann nicht als gleichwertig akzeptiert werden, wenn die Gründe dafür auf dem Tisch liegen.
Was man Menschen nicht antun darf
Diese Offenheit für pluralistische Erklärungen zeichnet das liberale Denken von Nagel aus. Während in den USA der Fortschritt der Moral in der Tradition des Utilitarismus vor allem am grössten Nutzen für möglichst viele Menschen gemessen wird, plädiert der Autor im ersten der zwei Essays, «Bauchgefühle und moralisches Wissen», dafür, auch intuitive moralische Urteile in die Beurteilung einzubeziehen.
Neben den Kosten-Nutzen-Kalkülen gebe es ein unmittelbares Gefühl dafür, wie Menschen anständig behandelt werden sollten, betont Nagel. Ein im Menschen angelegtes Wissen, dass Menschen bestimmte Dinge nicht angetan werden dürfen. Die Unverletzlichkeit des Einzelnen steht für die Unverletzlichkeit aller: Menschenwürde ist weder teil- noch verhandelbar.
Die Frage, ob es einen moralischen Fortschritt gibt, lässt sich für Nagel nur aus der Geschichte beantworten. Analog zum Prozess der Zivilisation, den der Soziologe Norbert Elias beschrieben hat, ist ein von Rückfällen unterbrochener Prozess der Moralisierung zu beobachten. Dabei liegen die Gründe, etwas aus moralischen Gründen zu tun oder zu lassen, nicht in naturwissenschaftlichen Gesetzen, die schon galten, bevor sie entdeckt wurden, sondern in historisch gewachsenen Formen der Vorstellungskraft.
Haben Tiere Rechte?
Moralische Einsichten sind also nicht zeitlos, sondern realisieren sich in bestimmten geschichtlichen Räumen. Und sie verändern sich, wenn sich die historischen Bedingungen ändern: Moralische Gebote setzen Menschen voraus, denen die massgeblichen Gründe, die hinter ihnen stehen, zugänglich sind, und die bereit sein müssen, ihr Handeln nach ihnen auszurichten.
So sieht Thomas Nagel in der Religionsfreiheit oder im Recht auf freie Meinungsäusserung moralische Prinzipien, die auf einem Wissen beruhen, das in vormodernen Zeiten aufgrund fehlender politischer und institutioneller Grundlagen schlicht nicht verfügbar sein konnte.
Am Schluss des Buchs gibt Nagel seiner Überzeugung Ausdruck, dass es moralischen Fortschritt auch in Zukunft geben wird. Die Gründe, in Fällen, in denen man bisher nach einer bestimmten Überzeugung handelte, anders, besser zu handeln als bisher, liegen seiner Ansicht nach entweder noch tief verborgen unter einer Schicht von Unwissenheit. Oder sie klopfen bereits an die Tür unseres Bewusstseins. Als Beispiel dafür könnten die Diskussionen über die Rechte von Tieren dienen. Das schlechte Gewissen der Menschen darüber, dass sie Tiere wie Waren behandeln, steht am Anfang einer moralischen Weiterentwicklung.
Thomas Nagel: Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt. Aus dem Amerikanischen von Karin Wördemann. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2025. 111 S., Fr. 34.90.