Als erste Angehörige der Roma überhaupt hat sie ein Land an der Biennale in Venedig vertreten: 2022 bespielte Malgorzata Mirga-Tas den polnischen Pavillon. Jetzt ist ihre Kunst in Luzern zu sehen.
Ihr Mutter war Näherin. Auch ihre Grossmutter war Näherin. Malgorzata Mirga-Tas ist mit dem Handwerk aufgewachsen, Stoffe waren stets ein Teil ihres Lebens. Und so näht auch Malgorzata Mirga-Tas. Manchmal näht sie Stoffe zusammen, die ganze Wände bedecken. Vor drei Jahren hat sie an der Kunstbiennale Venedig mit Bildern aus Kleidern den polnischen Pavillon ausgekleidet: als erste Roma-Angehörige überhaupt, die je einen solch prominenten Auftritt an der venezianischen Weltkunstschau hatte.
Bilder mit Kleidern machen: Damit begann Malgorzata Mirga-Tas zum ersten Mal, als sie schwanger war. Die Kleider, in die sie nicht mehr hineinpasste, machte sie zu Kunst. Auch von ihrer Mutter, von ihrer Schwester, von ihren Tanten erhielt sie Kleidungsstücke für ihre Bilder. Und von ihren Assistentinnen, die Tischdecken, Vorhänge, Bettwäsche aus der Nachbarschaft brachten.
Für Mirga-Tas haben diese Textilien eine enorme Bedeutung. Es sind nicht einfach alte Kleider, die nicht mehr gebraucht werden. Es sind Textilien, die für die Künstlerin die Energie und Emotionen der Personen enthalten, die sie getragen haben. Sie sind der Stoff, aus dem die Geschichten und die Identität ihrer Gemeinschaft und ihrer Kultur bestehen.
Holocaust der Roma
Malgorzata Mirga-Tas erzählt die Geschichte ihres Volkes mit dessen Kleidern. Aufgewachsen ist sie in Czarna Gora am Fuss des Tatra-Gebirges in der Woiwodschaft Kleinpolen. «Wir sind dort ein Teil der Mehrheitsgesellschaft, was deren Leben bereichert», sagt die Künstlerin in einem Video zu ihrer Ausstellung in der Tate in London im Jahr 2024. Und fügt an: «Ob dies auch von der Mehrheitsgesellschaft so gesehen wird, darüber bin ich mir allerdings nicht ganz im Klaren.»
Seit ihrem Kunststudium in Krakau engagiert sich Malgorzata Mirga-Tas dafür, ihre Gemeinschaft sichtbarer zu machen und etwas gegen Antiziganismus zu tun. Ihre Kunst kann als ein Beitrag zur Roma-Bewegung in Polen verstanden werden. Diese gibt es seit den sechziger Jahren, als die Roma immer noch Restriktionen und behördlichen Zwangsmassnahmen ausgesetzt waren.
Damals begannen sich die gesellschaftlichen Roma-Eliten zu organisieren. Seitdem treten sie selbstbewusst und konsequent für ihre Anliegen ein: Sie wünschen sich bessere Lebensbedingungen, wollen an der Gesellschaft teilhaben. Nach wie vor allerdings ist die Integration der Roma ein schwieriges Thema. Gewalttaten und Hate-Speech gegen Roma nahmen in jüngster Zeit wieder zu.
Die jahrhundertealte Verfolgung erreichte ihren Höhepunkt während der Nazizeit, als die Nürnberger Gesetze von 1935 die Roma wie die Juden zur Vernichtung bestimmten. Schätzungsweise 500 000 Roma wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet. Heute ist die Erinnerung an den Holocaust Teil der Identität der Roma.
In ihrem Animationsfilm, der jetzt im Kunstmuseum Luzern in der Ausstellung «Eine alternative Geschichte» gezeigt wird, erzählt Malgorzata Mirga-Tas die Geschichte der Roma-Heldin und Holocaust-Überlebenden Alfreda Noncia Markowska (1926–2021). Während des Zweiten Weltkriegs rettete sie etwa fünfzig Roma-Kinder und jüdische Kinder vor der Vernichtung durch die Nazis. Mit Werken wie diesem thematisiert Malgorzata Mirga-Tas Roma-Geschichte als eigene Geschichte.
Alternative Geschichte
Mirga-Tas betreibt «History» als «Her story» – als eigene Geschichte insbesondere auch aus weiblicher Sicht. Zum Beispiel in dem raumfüllenden Bilderfries «Re-enchanting the World» von 2022. Der Bilderzyklus lehnt sich an die Renaissance-Wandmalereien im Palazzo Schifanoia in Ferrara an.
Anstelle himmlischer und irdischer Szenen aus dem antiken Bildprogramm der Fresken in Ferrara präsentiert die Künstlerin die «Mythologie» und das Leben der europäischen Roma, die in Europa rund zehn Millionen Menschen umfasst. Der aus drei Bändern bestehende Bilderzyklus zeigt historische Roma-Heldinnen, Alltagsszenen, Roma-Dörfer und Landschaften, die für Roma Heimat sind.
Das obere Band schildert die Ankunft der Roma in Europa: eine bunte Karawane von Männern, Frauen und Kindern, zu Fuss und auf Pferden. Dafür greift Mirga-Tas auf kunsthistorische Darstellungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert zurück. Diese von Nichtroma angefertigten Bilder sind voller Stereotype und führten dazu, dass Klischeevorstellungen über Jahrhunderte weitergegeben wurden.
Ihr Vorgehen bezeichnet die Künstlerin selber als «reappropriation». Mirga-Tas übernimmt diese Bildquellen als Vorlagen für ihre eigenen textilen Bilder, um den Dargestellten ihre Würde zurückzugeben, wie sie sagt. Sie kleidet diese aus den Textilien von Roma bestehenden Bilder gleichsam in den Stoff der eigenen Geschichte ein. Mit dem monumentalen Wandfries hat Malgorzata Mirga-Tas den Roma gleichsam einen eigenen Palast gebaut.
«Malgorzata Mirga-Tas – eine alternative Geschichte», Kunstmuseum Luzern, bis 15. Juni.