Seine Erzählungen waren Geschichten zur richtigen Zeit. Er blieb präsent, auch nachdem er aufgehört hatte zu schreiben: Weggefährten erinnern sich an den Schriftsteller und Freund.
Ein feiner Mensch
Von Michael Krüger
Meine erste Reaktion auf die Nachricht von Peter Bichsels Tod war: Das darf nicht sein. Ja, wir wussten alle, dass er sehr alt war, wir haben seine wunderbaren letzten Interviews gelesen, aber trotzdem sind das alles keine Gründe, dass er nicht mehr unter uns ist. Es gibt Schriftsteller, die nicht sterben dürfen, weil mit ihrem Tod ein ganz spezifisches Stück Literatur sterben würde. Sie bilden die Ecksteine des grossen und weitverzweigten Gebäudes der Literatur; wenn sie nicht mehr da sind, droht die gesamte Architektur einzustürzen. Das Haus ist ja sowieso nicht mehr besonders stabil, aber wenn solche demokratischen Ziegelsteine wie Peter Bichsel wegfallen, ist es eine Katastrophe.
Einmal habe ich Günter Eich in die Schweiz begleitet, wo er den Prix Veillon erhalten sollte. Wir fuhren in meinem blauen Karmann-Ghia – Nutten-Porsche hat ihn Max Frisch genannt – mit offenem Verdeck, es war herrliches Wetter, die Berge sassen gewissermassen mitten in unserem Auto. Eich kam auf die schöne Idee, auf der Rückfahrt Peter Bichsel zu besuchen, um, wie er sagte, einen Teil seines Honorars gut anzulegen.
Bis nach Solothurn haben wir es leicht geschafft, aber dann trafen wir nur noch auf Menschen, die uns in Schweizer Mundart den Weg zum Nelkenweg zeigen wollten. Wir verstanden nichts. Jeder wusste, wer Peter Bichsel war und wo er wohnte, aber wir verstanden leider nur Bahnhof. Um eine lange, johannpeterhebelmässige Geschichte kurz zu machen: Am Ende fuhren wir im Schritttempo in Begleitung einer ganzen Traube von Menschen zum Nelkenweg, wo Peter uns schon seit Stunden erwartet hatte: triumphaler Besuch bei einem Dichter.
Wir hatten uns in den sechziger Jahren im Literarischen Colloquium in Berlin kennengelernt, wo ihm «Frau Blum» durch den Kopf ging, ein bis heute unterschätztes Buch einer nicht intentionalen Literatur: Der Text rennt nicht auf ein Ziel los und ruft nicht: Erster! Aber ein gewichtiger Teil seiner Literatur war seine Person: wie er schaute, sprach, sich bewegte und wie er lachte – mir kommen die Tränen, wenn ich an diesen feinen Menschen denke.
Beschränkung auf das Wenige
Von Franz Hohler
Peter Bichsel und ich sind beide in Olten aufgewachsen, und wir hatten beide, zeitlich etwas versetzt, denselben Primarlehrer, den wir gleichermassen verehrten. Kurt Hasler schrieb sich während seiner Zeit als Lehrer Aufsätze von Schülern und Schülerinnen, die ihm besonders gefielen, in ein Heft ab. Er nannte es «Vorzugsheft», und darin befanden sich unter anderen, als erste Spuren unserer Freude an der Sprache, Aufsätze von Peter Bichsel und von mir. Dieses Heft, das heute leider verschollen ist, konnte ich mir noch anschauen. Peter Bichsels Aufsatz «Murmeltiere!» beschreibt, wie er mit seinem Vater zusammen in den Bergen Murmeltiere beobachtete, und die sorgfältige und sprachlich originelle Schilderung zeigt bereits den Blick des späteren Schriftstellers. Peter Bichsel hat stets betont, dass Kurt Hasler der einzige Lehrer gewesen sei, welcher seine Aufsätze gut gefunden habe, und dass ihn das ermutigt habe, an sich selbst zu glauben.
Und Peter Bichsels erste Texte, «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen», haben mich ihrerseits durch ihre Knappheit und Beschränkung auf das Wenige ermutigt, der kurzen Form zu vertrauen. Wie schade, dass wir uns nicht mehr austauschen können!
Er kannte New York besser als ich
Von Mike Müller
Ich habe mal ein bisschen gestritten mit ihm, weil er New York so doof fand und ich so toll. Er kannte New York natürlich besser als ich, und über die solothurnische Provinz konnte er ohnehin besser philosophieren als ich. Er war ein Meister darin, die Sachen auszuspiegeln, das Grosse im Kleinen und umgekehrt. Ich finde New York immer noch toll. Aber ihn finde ich am tollsten. Superlative fand er, glaube ich, auch doof, aber da beharre ich jetzt drauf.
Nur ein Lachen
Von Meral Kureyshi
Als ich hörte, dass Bichsel gestorben ist, begann ich zu weinen. Ich sass im Bus in Bern. Eine Frau reichte mir ein Taschentuch. Dann musste ich noch mehr weinen.
Wir sassen auf der Bühne, und ich hörte ihm zu.
Wir sassen auf der Bühne, und er hörte mir zu.
Erinnerungen bleiben stehen, wenn jemand stirbt.
Unsere Gespräche waren so unaufgeregt wie die Orte, an denen wir lebten.
Ich bin ihm nur ein paar Mal begegnet.
Jedes Mal suchte er das Gespräch, stellte mir jemanden vor – jedes Mal.
Manchmal stellte ich eine Frage und bekam keine Antwort – nur ein Lachen.
Es war anders mit ihm. Schreibe immer weiter, sagte er, immer weiter und weiter. Sag, was du denkst, und habe keine Angst.
Er lobte mich für meine Arbeit, und ich wurde rot. Ich bedankte mich für seine, und er lachte.
Plötzlich sah ich ihn im Naturhistorischen Museum, wie er über Insekten sprach. Er konnte über sich selbst lachen, so lachen wir mit.
Er schaute, ich schaute – und die Welt war wieder rund.
«Ich mag nicht mehr schreiben, jetzt lese ich nur noch»
Von Pedro Lenz
Peter Bichsels Tod geht mir persönlich nahe. Zwar kam die Nachricht nicht vollkommen überraschend. Aber ich war sicher, ihm nächste Woche noch zum 90. Geburtstag gratulieren zu können. Schon kurz nach dem Erhalt der Todesnachricht begann ich ihn zu vermissen, so sehr hatte ich mich an seine Präsenz gewöhnt. Der Schriftsteller Bichsel wird selbstverständlich bleiben. Nach dem Menschen Peter Bichsel werden wir uns vergeblich umsehen, zum Beispiel an den Solothurner Literaturtagen, wo er immer präsent war, selbst zuletzt, als ihm das Gehen schwerfiel. Er hat seinen Esprit, seinen Schalk, seinen Biss nie verloren. Peter Bichsel war ein bewunderter Kollege, der es überhaupt nicht gerne hatte, bewundert zu werden. Und als er eines Tages beschloss, nicht mehr zu schreiben, hat er das mit einer Selbstverständlichkeit getan, die zu ihm passte. «Peter, stimmt es, dass du nicht mehr schreibst?» – «Ja, ich mag nicht mehr schreiben, jetzt lese ich nur noch.» – «Fehlt dir das Schreiben nicht?» – «Du würdest dich wundern, wie wenig es mir fehlt.»
Er sass mit allen zusammen
Von Patti Basler
Peter Bichsel verkörperte wie kein anderer den Citoyen mit Zivilcourage, auch entgegen den Herrschenden oder zumindest entgegen der herrschenden Meinung. Er war ein Kurzgeschichtenautor, wie er im Schulbuch steht. Dort lernte ich seine fein beobachteten Erzählungen kennen und lieben. Mein erstes Kurzreferat handelte von Bichsels Buch «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen». Es war jene Zeit, in der mit Kolumnensammlungen Preise gewonnen und Bestseller geschrieben wurden. Schriftsteller waren im Hauptberuf Lehrer, Schweizer Literatur war männlich, Hasskommentare waren nicht salonfähig, jedoch beizentauglich. Die Zettelwirtschaft von Frau Blum und dem Milchmann war Whatsapp und Tinder des letzten Jahrtausends, der Stammtisch war die Kommentarspalte, nur dass dort Schreiberling und Kommentator sich austauschten. Tatsächlich traf ich ihn zum ersten Mal am Stammtisch. Wir sprachen über Gott und die Welt und über den Slam-Poeten Kilian Ziegler, den er konsequent Kilian Wenger nannte. Das passt. Bichsel war nahe am Menschen, ob bodenständig im Sägemehlring mit dem Wenger Kilian oder im verbalen Überbau mit dem Ziegler. Er sass mit allen zusammen und setzte sich mit allen auseinander, am Tisch in der Beiz. Vielleicht hätte dort Frau Blum sogar den Milchmann kennenlernen können.
Danke, Peter Bichsel. Es waren nie Geschichten zur falschen Zeit. Deine Schulmeistereien erteilst du nun hoffentlich einige Stockwerke höher. Es scheint nötiger denn je.
Auf ein letztes Telefonat
Von Eric Bergkraut
«Nein», sagte er am Telefon, und seine Stimme war hell und klar wie je, klar, wie auch seine Textnachrichten es gewesen waren, zu denen prompt eine Korrektur folgen konnte, wenn die Urnachricht auch nur einen kleinen Fehler enthalten hatte, «nein», sagte er also, «besucht mich lieber nicht da, wo ich jetzt noch bin, lieber, wenn ich dann wieder zu Hause bin.»
Peter gehörte zu jenen Menschen, die bei nächster Gelegenheit zurückrufen, wenn sie einen Anruf verpasst haben – und wenn er denn die Kraft hatte dazu, und das führt mich zu einer altmodischen Charaktereigenschaft, die man von einem Künstler seines Ranges nicht unbedingt erwartet: Peter war eine verbindliche Person. Was er sagte, sollte gelten.
Er war abgehärtet gegen alles, was Mode war oder modisch klang. Die Fähigkeit zur Empörung verlor er trotz fortschreitendem Alter nicht. Bei aller Versöhnlichkeit, die ihn gewiss auch begleitet oder erreicht hat. Sie richtete sich gegen die grosse Politik, auch gegen Bewegungen im öffentlichen Diskurs und in den Medien.
Ich würde mich nicht getrauen, mich als Peter Bichsels Freund zu bezeichnen. Müsste ich eine Skizze erstellen, ich zeichnete mich in seinem Orbit im Rang eines entfernt Verwandten, deutlich Zugewandten. Eines Menschen, der mit ihm ein Abenteuer teilt, eine Reise nach Paris, aus der ein Film wurde, der stehen und leben bleibt.
Hätte ich es vorher nicht gewusst, ich hätte von ihm gelernt, dass jede Begegnung ein Abenteuer ist. Dass es in der Abenteuerlichkeit keine Hierarchie gibt: Ein Abenteuer ist ein Abenteuer. Es kann hinter der nächsten Hausecke lauern oder im zweiten Stock eines Hotels in der Gare de l’Est.
Zu jenem von ihm nach Hause gewünschten Besuch ist es nicht mehr gekommen. Ich wollte ihn unternehmen mit einem Menschen, den Bichsel «mein alter Freund» genannt hatte, obwohl er recht jung ist, fast 72 Jahre jünger als Bichsel: unserem, Ruth Schweikerts und meinem, Sohn. Ihn begleitet jetzt die Erinnerung an einen ewig jungen Freund.