Zu Beginn des Jahres sind die Krankenkassenbeiträge in Deutschland ausserordentlich stark gestiegen. Die nächste Regierung muss sich auf beherzte Reformen einigen, sonst werden entweder die Beiträge oder die steuerfinanzierten Bundeszuschüsse weiter wachsen.
Wer in Deutschland gesetzlich krankenversichert ist, und das sind rund 90 Prozent der Bevölkerung, hat zu Jahresbeginn eine unliebsame Überraschung erlebt: «Auf Anfang 2025 sind die Prämien förmlich explodiert, sowohl für gesetzlich als auch für privat Versicherte. Das haben wir so noch nie gesehen», sagt Eberhard Sautter, Vorstandsvorsitzender der Versicherungsgesellschaft Hanse-Merkur, die unter anderem private Krankenversicherungen anbietet.
Für gesetzlich versicherte Arbeitnehmer mit einem Jahreseinkommen von 66 150 Euro oder mehr stieg der monatliche Beitrag unter Einrechnung der sozialen Pflegeversicherung laut Sautter im Durchschnitt aller gesetzlichen Kassen um 11,8 Prozent auf 1174 Euro.
Sonderfaktoren verstärken langfristigen Trend
Dass die Beiträge dieses Jahr besonders stark gewachsen sind, führt Jürgen Wasem, Professor für Medizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen, vor allem auf drei Sonderfaktoren zurück: Erstens habe man Ende 2023 bei der Festlegung der Prämien für 2024 die Entwicklung zu positiv eingeschätzt, woraus nun Nachholbedarf entstanden sei. Zweitens habe die Politik die Krankenkassen Ende 2022 gezwungen, laufende Ausgaben aus Rücklagen zu finanzieren, das sei nun nicht mehr möglich. Drittens sei der Bundeszuschuss an die Krankenkassen reduziert worden.
Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV)
Wer in Deutschland als Arbeitnehmer bis zu 73 800 Euro pro Jahr verdient (Versicherungspflichtgrenze), muss sich in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) versichern lassen. Dazu stehen derzeit 94 Krankenkassen zur Verfügung, die Körperschaften des öffentlichen Rechts sind. Im Gegensatz zu den Schweizer Kopfprämien sind die Beiträge nach dem Solidaritätsprinzip vom Gehalt abhängig. Derzeit betragen sie 14,6 Prozent des Bruttolohns zuzüglich eines Zusatzbeitrags, der je nach Kasse unterschiedlich ist und im Durchschnitt 2,91 Prozent des Gehalts beträgt. Hinzu kommt ein Beitrag von 3,6 Prozent für die soziale Pflegeversicherung, der sich für Kinderlose um weitere 0,6 Prozentpunkte erhöht (alle Zahlen für 2025). Ab einem Jahreseinkommen von 66 150 Euro (Beitragsbemessungsgrenze) steigen die Beiträge nicht mehr. Alle Beiträge (ausser Kinderlose-Zuschlag) werden je hälftig vom Arbeitnehmer und vom Arbeitgeber (bei Rentnern vom Rentenversicherungsträger) geleistet und sind damit Teil der Lohnnebenkosten. Die GKV funktioniert nach dem Umlageverfahren: Laufende Kosten werden aus laufenden Einnahmen gedeckt.
Die Sonderfaktoren haben einen langjährigen Trend steigender Beiträge zusätzlich akzentuiert. Dieser entsteht laut Wasem daraus, dass die von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu deckenden Kosten chronisch stärker steigen als die beitragspflichtigen Löhne, Gehälter und Renten. Erstere wachsen seit Jahren stärker als die Wirtschaftsleistung (gemessen am Bruttoinlandprodukt pro Einwohner), Letztere langsamer.
Die sich öffnende Schere zwischen den beiden Grössen führt dazu, dass die Beitragssätze erhöht werden müssen, um die Kosten zu decken. Derzeit erfolgt das über die Erhöhung der Zusatzbeiträge.
Seit 2004 erhält die GKV zudem einen aus Steuermitteln finanzierten Bundeszuschuss. Er dient offiziell der Finanzierung «versicherungsfremder Leistungen». Dazu zählen zum Beispiel die beitragsfreie Familienversicherung von Kindern und Ehegatten. Der Zuschuss wurde nach der Finanzkrise und in den Corona-Jahren stark erhöht, weil sonst die GKV-Beiträge massiv gestiegen wären. 2024 wurde er wieder auf den seit 2017 geltenden «normalen» Wert von 14,5 Milliarden Euro pro Jahr zurückgeführt. Ohne Zuschuss wären die GKV-Beiträge noch höher, doch entspricht er laut Wasem weniger als einem Beitrags-Prozentpunkt.
Dass die Gesundheitskosten pro Kopf stärker steigen als die Wirtschaftsleistung pro Kopf, führt Sautter auf eine Reihe von Gründen zurück. So stiegen etwa bei der Hanse-Merkur sowohl die Mengen, also zum Beispiel die Zahl der Arztbesuche, als auch die Preise für medizinische Dienstleistungen und Medikamente überproportional. Zudem treibe die Alterung der Bevölkerung die Kosten nach oben: «Im Durchschnitt verursacht ein 65-Jähriger fünfmal so hohe Gesundheitskosten wie ein 25-Jähriger.»
Duales System mit Tücken
Eine deutsche Besonderheit ist das «duale System»: Selbständige, Beamte und Arbeitnehmer mit höherem Einkommen können sich statt über die GKV über die private Krankenversicherung (PKV) bei einer Versicherungsgesellschaft wie etwa der Hanse-Merkur versichern.
Die private Krankenversicherung (PKV)
Bestimmte Personengruppen, vor allem Selbständige, Beamte und Arbeitnehmer mit einem Einkommen über der Versicherungspflichtgrenze (siehe Infobox GKV), haben die Wahl: Entweder versichern sie sich freiwillig in der GKV, oder sie sichern sich über die private Krankenversicherung (PKV) ab. PKV-Verträge werden von privatwirtschaftlichen Versicherungsgesellschaften angeboten. Die Prämienhöhe hängt vom Umfang der versicherten Leistungen und vom individuellen versicherten Risiko ab. Die PKV arbeitet nach dem Anwartschaftsdeckungsverfahren: Die Beiträge werden so kalkuliert, dass die Versicherten in jungen Jahren Vorsorge für ihre altersbedingt steigenden Gesundheitsausgaben treffen. Deshalb liegen die Beiträge anfangs über den zu erwartenden Gesundheitsausgaben. Daraus werden Alterungsrückstellungen gebildet und verzinslich angelegt. Wer sich privat krankenversichert, muss auch eine private Pflegeversicherung abschliessen.
Das sei historisch so gewachsen, sagt Wasem. «Auf der grünen Wiese» würde sich das heute niemand so ausdenken. Denn das duale System habe zwei Nachteile. Erstens sei es verteilungspolitisch schwer zu rechtfertigen, dass in einem Solidarsystem mit einkommensabhängigen Beiträgen die Besserverdienenden wählen könnten, ob sie daran teilnähmen oder nicht.
Der zweite Nachteil sei die Ungleichbehandlung. Privatversicherte besuchen zwar dieselben Ärzte und Krankenhäuser wie gesetzlich Versicherte, aber die Leistungserbringer können ihnen höhere Preise verrechnen. Das habe die Politik entschieden, zum Teil als Kompensation dafür, dass sich Privatversicherte der Solidargemeinschaft entziehen dürfen. Weil sie überproportional viel zahlten, seien sie als Patienten auch «überproportional beliebt».
Das äussert sich zum einen in den Wartezeiten: Sucht man als gesetzlich Versicherter über Telefon oder ein Buchungsportal einen Facharzt, erhält man einen Termin in Wochen oder Monaten, tritt man als Privatpatient auf, ist gleichentags oder am nächsten Morgen ein Termin frei. Was jeder Deutsche aus anekdotischer Erfahrung kennt, belegen laut Wasem auch Studien. Zum andern erhielten Privatpatienten drei bis sieben Jahre früher Zugang zu neuen Behandlungsmethoden, und sie bekämen schneller neue Arzneimittel verschrieben. Allerdings gebe es bis jetzt keine Belege dafür, dass die Ungleichbehandlung zu einem bedrohlichen Ausgang bei schweren Erkrankungen führe.
Was für die PKV spricht
Letzteres betont auch Sautter. Er ist ohnehin von der Überlegenheit des dualen Systems überzeugt: «Es schafft eine echte Grundversorgung und bietet gleichzeitig Wahlfreiheit und Wettbewerb. Das schafft kein anderes System.» Zudem trage die PKV überproportional zur Finanzierung des Gesundheitswesens bei, sie funktioniere ohne Zuschüsse, und sie sei im Gegensatz zur GKV dank dem Anwartschaftsdeckungsverfahren generationengerecht. Auch Wasem hält der PKV zugute, dass sie damit weitgehend gegen demografische Belastungen gefeit sei.
Darüber hinaus fördert die PKV laut Sautter Innovationen: Indem die privaten Versicherer Neuerungen früher in ihren Leistungskatalog aufnähmen, sorgten sie dafür, dass sich diese durchsetzten und billiger würden, so dass sie die GKV einige Jahre später zu deutlich niedrigeren Preisen ebenfalls übernehmen könne.
Reformen ja, aber welche?
Gleichwohl führt der in der Bevölkerung verbreitete Eindruck, immer mehr für die GKV zu bezahlen und zugleich immer länger auf Arzttermine zu warten, zu viel Unzufriedenheit.
Doch wo könnte man ansetzen? Wasem sieht drei Ansätze für Reformen. Erstens sei das Thema Effizienzsteigerungen wichtig und habe Priorität. Dafür sei die Krankenhausreform mit all ihren Problemen ein Beispiel, da sie effizientere Krankenhausstrukturen anstrebe. Wichtig seien zudem die Optimierung der Schnittstelle zwischen ambulanter und stationärer Behandlung sowie eine bessere Steuerung im System. Beispielsweise könnten die Bürger derzeit zwei Hausärzte parallel nutzen und ungehindert Fachärzte aufsuchen.
Zweitens müsse man sich den Leistungskatalog ansehen, sowohl den Bestand als auch die Neuzugänge, sagt Wasem. Im Vergleich zu anderen Ländern habe Deutschland im solidarischen System wohl den mit Abstand grössten Leistungskatalog. Einschränkungen müssten allerdings mit einem breiten gesellschaftlichen Dialog einhergehen.
Wasem sieht hier drei Ansatzmöglichkeiten. Man könne vor allem preisgünstige Leistungen stärker aus dem Katalog herausnehmen. Man könne die Definition von sogenannten Bagatellerkrankungen breiter fassen, so dass leichte Erkrankungen weniger ausgiebig vom Leistungskatalog abgedeckt würden. Oder man könne sich stärker von Kosten-Nutzen-Erwägungen leiten lassen, so dass Behandlungen mit einem relativ kleinen Nutzen bei zugleich hohen Kosten aus dem Leistungskatalog gestrichen würden.
Drittens müsse die Dynamisierung der Selbstbeteiligung wieder aufgegriffen werden, die es bis 2023 gegeben habe. In den dreissig Jahren zuvor sei die Selbstbeteiligung pro Rezept von einem Euro auf fünf Euro gestiegen. Das sei verkraftbar und sollte fortgesetzt werden.
Auch Sautter plädiert dafür, falsche Anreize zu korrigieren und Selbstvorsorge zu belohnen: «Warum nicht eine Praxisgebühr wieder einführen? Warum nicht die Erstattung von Zahnersatz nur bei regelmässig durchgeführter Zahnreinigung zulassen?» Zudem sollte Deutschland mehr auf Massnahmen zur Gesundheitsförderung und auf Prävention setzen, um laufende Kosten zu senken.
Neue Bundesregierung gefordert
In den laufenden Koalitionsverhandlungen werden sich auch die voraussichtlichen künftigen Koalitionäre Union und SPD solchen Fragen stellen müssen. Ihr Sondierungspapier schweigt sich dazu noch weitgehend aus.
Im Wahlprogramm der Sozialdemokraten heisst es unter anderem, die Unterschiede bei Wartezeiten und Behandlungsmöglichkeiten zwischen privat und gesetzlich Versicherten müssten beseitigt werden. Angepeilt wird ein «System einer solidarischen Bürgerversicherung», das Krankenkassen und private Krankenversicherungen gemeinsam bilden und in dem auch Letztere zum Risikostrukturausgleich beitragen müssten.
Die Schaffung einer echten Bürgerversicherung ist indessen aus Sicht von Wasem unrealistisch. Dazu müsste man Privatversicherte zum Übertritt in die GKV zwingen, oder die PKV müsste einen Bürgerversicherungstarif mit einkommensabhängigen Beiträgen einführen. Dem stehe aber der Eigentumsschutz der Privatversicherten entgegen, die für Altersrücklagen gezahlt hätten. Das einzige realistische Modell wäre deshalb, keine neuen Eintritte in eine private Vollversicherung mehr zu erlauben, sagt Wasem. Das würde aber eine Übergangsfrist von etwa achtzig Jahren (bis der letzte gestern in die PKV eingetretene Privatversicherte gestorben ist) und viele Übergangsprobleme schaffen.
Sautter plädiert dafür, an der Wahlfreiheit des dualen Systems festzuhalten und in erster Linie die Fehlanreize zu korrigieren. Um die Generationengerechtigkeit zu erhöhen und die Innovationsfähigkeit im Gesundheitswesen zu steigern, sieht er die Lösung in mehr statt weniger privater Krankenversicherung.
Auch die Union will generell am dualen System festhalten und fordert unter anderem eine Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Kassen. Wie sich die beiden Ansätze zusammenbringen lassen, bleibt abzuwarten. Sicher ist eins: Ohne Reformen werden entweder die GKV-Beiträge oder die Bundeszuschüsse weiter steigen.
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