Laut dem von der Terrororganisation Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium haben die israelischen Bombardements in der Nacht mehr als 300 Tote gefordert. Eine Bodenoffensive könnte folgen. Die USA unterstützen den Angriff.
Die Feuerpause zwischen Israel und der Hamas ist in der Nacht auf Dienstag kollabiert. Die israelischen Verteidigungskräfte (IDF) haben Dutzende Luftangriffe in der gesamten Küstenenklave geflogen, nachdem die Regierung den Befehl ausgegeben hatte, «starke Massnahmen» gegen die Terrororganisation zu ergreifen. Der Befehl folge auf die wiederholte Ablehnung der Hamas, die israelischen Geiseln freizulassen, sowie aller Vorschläge des amerikanischen Nahost-Gesandten Steve Witkoff, so hiess es in der Nacht vom Büro des Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu.
Mindestens 322 Personen sind laut den Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums in der Nacht getötet worden. Die Behörde unterscheidet nicht zwischen getöteten Zivilisten und Terroristen. Fotos aus den sozialen Netzwerken zeigen auch verletzte und getötete Frauen und Kinder.
Die israelische Armee wurde angewiesen, von jetzt an mit zunehmender militärischer Stärke gegen die Hamas vorzugehen. Laut den IDF haben die Luftangriffe Hamas-Kommandanten und Infrastruktur der Terrororganisation zum Ziel. Einige Stunden nach Beginn der Luftangriffe veröffentlichten die IDF Evakuierungsanordnungen für Palästinenser, die sich an den Rändern des Gazastreifens befinden. «Diese Gebiete sind gefährliche Kampfgebiete», hiess es in einem in arabischer Sprache veröffentlichten Aufruf. Die Menschen sollen sich demnach zu ihrer eigenen Sicherheit in den Westen der Stadt Gaza sowie in den Westen der Stadt Khan Yunis begeben – ein Schritt, der auf eine mögliche Bodenoffensive hindeutet.
Israels rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich schrieb am Dienstag auf X, dass der jetzige Angriff «vollkommen anders» aussehen werde als der bisherige Krieg. Die Pläne für den Angriff seien ausgearbeitet worden, als Israels neuer Armeechef Eyal Zamir vor rund zwei Wochen seinen Posten angetreten habe.
Die Verhandlungen steckten fest
Israel greift den Gazastreifen an, nachdem die Verhandlungen mit der Hamas seit mehr als zwei Wochen festgesteckt hatten. Offiziell endete die erste Phase der Mitte Januar vereinbarten Waffenruhe am 1. März. Danach sollten beide Seiten über die zweite Phase verhandeln, die auch ein permanentes Ende des Kriegs vorgesehen hätte. Die Hamas hat auf die ursprünglich vereinbarten Bedingungen bestanden und ein Kriegsende gefordert, während Israel jüngst eine Verlängerung der ersten Phase präferiert hatte.
Die Regierung unter Ministerpräsident Netanyahu hatte immer wieder betont, dass sie beide Kriegsziele erfüllen will: die Rückkehr aller Geiseln sowie die vollständige Zerstörung der Hamas. Ein Kriegsende hätte bedeutet, dass die Hamas zwar militärisch stark geschwächt wäre, den Gazastreifen allerdings weiter kontrolliert hätte. Israel hat dementsprechend keine Gespräche über die zweite Phase der Waffenruhe aufgenommen.
Die USA hatten sich jüngst auf die israelische Position eingelassen. Der amerikanische Nahost-Gesandte Steve Witkoff hatte in Gesprächen mit den vermittelnden Staaten versucht, die erste Phase für mehrere Wochen zu verlängern, in der die Hamas fünf lebende Geiseln freilassen sollte. Witkoff sagte am Sonntag, dass die Antwort der Hamas auf seinen Vorschlag ein «non-starter» gewesen sei.
Was passiert mit den Geiseln?
Israels Angriffe auf den Gazastreifen waren offenbar zuvor mit Washington abgesprochen. Das berichteten mehrere israelische und amerikanische Medien übereinstimmend. So schrieb etwa das «Wall Street Journal» am Dienstag, dass Donald Trump Israel grünes Licht für die Wiederaufnahme der Kämpfe gegeben habe, nachdem die Terrororganisation keine weiteren Geiseln freigelassen habe. Eine Pressesprecherin des Weissen Hauses sagte dem Sender Fox News, dass Israel dem Weissen Haus vor den Angriffen Bescheid gegeben habe.
Was nun mit den restlichen 59 israelischen Geiseln geschieht, die sich noch in den Händen der Hamas befinden, ist unklar. Rund die Hälfte von ihnen soll noch am Leben sein. Michael Milshtein, der ehemalige Leiter der Palästinenser-Abteilung des israelischen Militärgeheimdiensts, sagte vor wenigen Tagen im Gespräch mit der NZZ, dass Israel die Geiseln nicht wiedersehen werde, falls es den Krieg wiederaufnehme.
Die Hamas reagierte auf die Angriffe mit scharfer Verurteilung und teilte mit, dass der Bruch der Waffenruhe die Geiseln in ihrer Hand einem «ungewissen Schicksal» aussetze. Das Büro von Netanyahu sagte in der Nacht auf Dienstag, dass es weiterhin daran arbeite, alle Kriegsziele zu erreichen – einschliesslich der Freilassung aller Geiseln. In Israel glauben daran nur noch wenige. Am Dienstag warf das Forum der Geiselfamilien der Regierung vor, sich entschieden zu haben, das Leben der Geiseln aufzugeben. «Die grösste Angst der Familien, der Geiseln und der israelischen Bürger hat sich bewahrheitet.»
Für die Menschen im Gazastreifen sind die wiederaufgenommenen Kämpfe eine Katastrophe. Ein Grossteil des Küstenstreifens ist nach rund anderthalb Jahren Krieg zerstört – zudem blockiert Israel seit einigen Tagen alle Hilfslieferungen nach Gaza. Das Leid der Zivilbevölkerung wird die Hamas aller Wahrscheinlichkeit nach allerdings nicht zum Aufgeben bringen. Die Islamisten haben seit Kriegsbeginn bewiesen, dass sie das Schicksal der Palästinenser in Gaza nur wenig kümmert.