Nach jahrelangen Verhandlungen im Südkaukasus ist ein Durchbruch erfolgt. Das Misstrauen zwischen den beiden Staaten bleibt jedoch tief. Zentrale Fragen wurden ausgeklammert.
Armenien und Aserbaidschan scheinen einem Frieden so nah wie noch nie. Dafür jedenfalls spricht die Mitteilung der Aussenministerien beider Staaten, die Verhandlungen über einen Friedensvertrag seien abgeschlossen. Dass es nicht gelang, sich auch bei der Publikation dieses wichtigen Schritts aufeinander abzustimmen, und Aserbaidschan kurz danach neue Bedingungen für die Unterzeichnung formulierte, zeigte allerdings, auf welch schmalem Grat sich die beiden Staaten nach wie vor bewegen.
Noch konkreter brachte das der aserbaidschanische Machthaber Ilham Alijew zum Ausdruck. Stabilität im Südkaukasus werde es erst geben, wenn der Vertrag auch tatsächlich unterzeichnet sei. In Armenien wurde das als Drohung verstanden. Prompt kam aus Baku der Vorwurf, armenische Truppen hätten am Wochenende aserbaidschanische Positionen an der Grenze der beiden Staaten beschossen. Das Verteidigungsministerium in Erewan und die Beobachtungsmission der Europäischen Union in Armenien konnten das nicht bestätigen. Aber in Armenien wächst der Verdacht, Alijew plane einen neuen Krieg.
Ein halbes Dutzend Kriege
Auf den ersten Blick wirkt die Bekanntgabe einer Einigung im blutigsten und hartnäckigsten Konflikt des südlichen Kaukasus wie ein Paukenschlag. Ein halbes Dutzend militärische Auseinandersetzungen fochten Erewan und Baku in den vergangenen 35 Jahren aus – vom mehrjährigen ersten Krieg um die armenisch besiedelte Enklave Nagorni Karabach Anfang der neunziger Jahre bis zur eintägigen Militäroperation 2023, die in der Vertreibung aller armenischstämmiger Karabacher endete. In den Verhandlungen um einen Friedensvertrag gab es zahllose Rückschläge. Der armenische Aussenminister Ararat Mirsojan sprach von einem «sehr wichtigen Meilenstein».
Das bis jetzt nicht in der Endfassung veröffentlichte Abkommen ist ein Rahmenvertrag. Er soll die gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität und der Souveränität festschreiben und hat auch eine geopolitische Bedeutung. Für die Türkei ist ein solcher Vertrag die Voraussetzung für konkrete Schritte bei der Annäherung an Armenien – etwa der Öffnung der seit mehr als drei Jahrzehnten geschlossenen Grenze.
Der zweite Blick relativiert den Meilenstein. Zum einen ist noch völlig unklar, wie schnell es überhaupt zur Unterzeichnung und Ratifizierung des Abkommens kommen wird. Zum andern sind entscheidende Streitpunkte zwischen den zwei Nachbarstaaten von dem Vertrag gar nicht erfasst.
Armenier mit vielen Zugeständnissen
In Armenien ist deshalb die Ansicht verbreitet, Ministerpräsident Nikol Paschinjan habe in praktisch allen Punkten den Aserbaidschanern nachgegeben und trotzdem nicht erreicht, dass Alijew von seinen Drohgebärden an die Adresse Armeniens ablässt.
Die Kritik betrifft zunächst die beiden letzten Zugeständnisse, die Armenien machte, um die Verhandlungen abschliessen zu können. Das eine ist die Zustimmung dazu, dass keine Beobachter aus Drittstaaten mehr an der Grenze eingesetzt würden. Armenien muss damit die EU-Beobachtungsmission beenden. Damit wird es noch etwas schutzloser. Kritiker sagen, Baku wolle gerade aus diesem Grund die Beobachter weghaben, um handstreichartige Aktionen durchzuführen.
Das andere ist die Einwilligung Armeniens dazu, alle hängigen Klagen vor internationalen Gerichten gegen das Nachbarland zurückzuziehen und auch keine neuen einzureichen. Das schmerzt besonders die Karabach-Armenier sehr. Ihr früherer Ombudsmann für Menschenrechte, Artak Beglarjan, drohte der armenischen Regierung damit, gegen Armenien und dessen Verantwortungsträger Klage einzureichen, sollte die Regierung tatsächlich diesen Punkt umsetzen. Die Karabach-Armenier vermissen auch das Engagement der Regierung für das Schicksal führender Politiker Karabachs, denen in Baku der Prozess gemacht wird.
Neue Bedingungen Bakus
Grundsätzlich fehlt es am gegenseitigen Vertrauen. Alijew sagte, sein Vertrauen in die Aussagen armenischer Vertreter sei gleich null. Paschinjan gibt sich konziliant, aber in der Öffentlichkeit ist das Misstrauen gegenüber Aserbaidschan enorm gross. Dass der aserbaidschanische Aussenminister Jeyhun Bayramov sofort zwei Bedingungen für die Unterzeichnung des Vertrags nannte, bestätigte die Skeptiker nur in ihrer Haltung.
Baku verlangt die Auflösung der Minsk-Gruppe der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, eines diplomatischen Formats zur Lösung des Karabach-Konflikts unter der Leitung dreier Diplomaten aus Russland, den USA und Frankreich, das seit 1992 erfolglos geblieben ist. Die zweite Bedingung Bayramovs ist schwieriger zu erfüllen: Armenien müsse zuerst seine Verfassung ändern, weil deren Präambel territoriale Ansprüche auf Karabach und damit auf Aserbaidschan geltend mache. Das weisen die Armenier zurück.
Paschinjan hat sich im Grundsatz für eine Verfassungsrevision ausgesprochen. Für ihn ist Karabach Geschichte. Aber er stellt die Verfassungsreform als etwas dar, was unabhängig davon nötig sei. Den Eindruck, er handle unter Druck Bakus, will er vermeiden. Das damit einhergehende Verfahren ist langwierig. Mit einer Volksabstimmung ist erst nach den Parlamentswahlen im kommenden Jahr zu rechnen.
Streitpunkt der Verkehrsverbindung
Im Vertrag fehlt der Hauptstreitpunkt zwischen Baku und Erewan, die Gewährung einer direkten Verkehrsverbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan quer durch armenisches Territorium. Baku besteht auf einem extraterritorialen Korridor durch die südarmenische Provinz Sjunik («Sangesur-Korridor»). Armenien will dem Nachbarn nur den ungehinderten Transitverkehr zusichern, aber auf keinen Fall besondere Rechte geben.
Das hängt auch damit zusammen, dass Alijew und zahlreiche aserbaidschanische Politiker nicht davon ablassen, grosse Teile Armeniens, inklusive Erewans und besonders Sjuniks, als «West-Aserbaidschan» zu bezeichnen. Alijew wirft Armenien vor, sich für einen Krieg zu rüsten, füllt sein eigenes Waffenarsenal aber ständig auf.
Auch ein Streit um aserbaidschanische Exklaven auf armenischem Territorium könnte den Frieden noch erheblich stören. Nicht zuletzt ist offen, ob Paschinjan sich innenpolitisch behaupten kann. Die Opposition kritisiert seine Politik gegenüber Aserbaidschan als Unterwerfung. Bei Neuwahlen könnten auch weniger auf Ausgleich bedachte Figuren an die Macht kommen.