Der Energiebedarf der Welt wachse unaufhaltsam und werde auf absehbare Zeit vor allem durch fossile Energieträger gedeckt werden müssen, sagt Lino Guzzella. In seiner Analyse der Energie- und Klimapolitik kommt der Ingenieur zu einem ernüchternden Befund.
Herr Guzzella, bis 2050 sollen wir klimaneutral werden und ohne fossile Energien auskommen. Ist das möglich?
Zuerst einmal: Es ist für mich klar, dass der Ausstoss von Klimagasen reduziert werden muss. Welchen Zeitraum man dafür betrachtet, hängt davon ab, wie Sie «wir» definieren. Wenn damit die Schweiz gemeint ist, dann ist es denkbar, bis 2050 den CO2-Ausstoss im Inland – also ohne Importe und Luftverkehr – auf null zu reduzieren; allerdings nur mit substanziellen Wohlstandsverlusten.
Und wie sieht es weltweit aus?
Das ist in der genannten Zeitspanne leider nicht möglich. Der Energiebedarf der Welt wächst unaufhaltsam, und er wird auf absehbare Zeit vor allem durch fossile Energieträger gedeckt werden müssen. Die Klimaerwärmung kann nur dann verlangsamt werden, wenn eine spürbare Reduktion der jährlich global ausgestossenen rund 55 Milliarden Tonnen Klimagase erreicht wird. Die Schweiz emittiert im Inland etwa 0,1 Prozent davon.
Wie stark sind wir denn heute noch von den fossilen Energien – Kohle, Öl und Erdgas – abhängig?
In der Schweiz machten sie im Jahr 2023 etwa 59 Prozent des totalen Energieumsatzes im Inland aus – Importe und Luftverkehr auch hier nicht mitgerechnet. Global sind es etwa 77 Prozent. Trotz den 2015 gemachten Absichtserklärungen an der Klimakonferenz in Paris bleibt der relative Anteil der fossilen Energieträger also etwa konstant, und der absolute Wert nimmt mit Ausnahme der bereits wieder kompensierten «Covid-Delle» weiter zu. Das ist auch nicht weiter erstaunlich. Ohne eine ausreichende und kostengünstige Energieversorgung gibt es keinen Wohlstand, und grosse Anteile der Weltbevölkerung – etwa Indien und Subsahara-Afrika – haben einen Nachholbedarf. Persönlich habe ich Verständnis für diesen Wunsch.
Wie stark wird die Nachfrage nach Strom in der Schweiz ansteigen?
Die Haupttreiber für den erhöhten Strombedarf werden der Ersatz von Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen, der Ersatz von Verbrennungs- durch Elektromotoren, das Wachstum der Wohnbevölkerung und die Digitalisierung sein. Für die Schweiz erwarte ich daher eine Zunahme des jährlichen Stromverbrauchs um etwa 30 Terawattstunden (TWh), also von heute knapp 60 TWh auf etwa 90 TWh. Dies bedingt aber eine vollständige Sanierung der Bausubstanz, eine Reduktion der industriellen Produktion und des Mobilitätsniveaus. Zudem spiegelt das nur den Inlandverbrauch wider. Die in den Importen enthaltene «graue» elektrische Energie ist in diesen Zahlen nicht berücksichtigt. Für die Welt lässt sich der zusätzliche Strombedarf heute praktisch nicht abschätzen, insbesondere wenn der Industriesektor mitberücksichtigt wird. Fossile Kohlenwasserstoffe sind nämlich nicht nur im Energiesektor wichtig, sondern auch als Ausgangsstoffe in der Düngermittelproduktion, in der Chemie und in vielen anderen Anwendungen.
Geht der Bund also von zu optimistischen Annahmen aus?
Die «offizielle Auslegeordnung» ist meines Wissens in einem Faktenblatt aus dem Jahr 2020 zusammengefasst. Die Studien, die Beratungsfirmen damals im Auftrag des Bundes erstellt haben, zeigen das folgende Bild: Im Jahr 2050 sollten alle Kernkraftwerke abgestellt sein und der gesamte inländische Strombedarf der Schweiz im Mittel durch Wasserkraft und «neue Erneuerbare» gedeckt sein, wobei die «neuen Erneuerbaren» zu etwa 80 Prozent aus Photovoltaik bestehen sollen. Dies entspricht etwa 36 Gigawatt (GW) installierter Photovoltaik-Leistung. Zum Vergleich: Heute sind etwa 6,5 GW installiert. Jahresdurchschnitte sind allerdings nicht relevant, da die Frequenz im elektrischen Netz jederzeit garantiert werden muss. Im Mittel müssen Produktion und Konsum von elektrischer Energie exakt ausgeglichen sein.
Gewährleistet ein solcher Ausbau der Photovoltaik eine sichere Versorgung mit Strom?
Nein. Mit den anvisierten 36 GW Photovoltaik im Mittelland wird es im Winter zu Stromlücken kommen. Die Schätzungen der genannten Beratungsfirmen gehen für das Jahr 2050 von 10 TWh aus. Ich denke, es werden eher 20 TWh elektrische Energie sein, die der Schweiz dann fehlen werden.
Wird die Schweiz so grosse Mengen an Strom importieren können?
Das ist fragwürdig. Ausser Frankreich, welches seine Kernkraftwerke von heute etwa 60 GW Leistung weiter ausbauen will, werden nämlich alle unsere Nachbarländer ähnliche Probleme haben wie wir. Sie haben im Sommer zu viel und im Winter zu wenig Strom.
Können wir die zusätzliche Nachfrage, die aufgrund des Ausstiegs aus den fossilen Energien entsteht, mit den erneuerbaren Energien allein also nicht decken?
Denkbar ist das schon, allerdings nicht mit dem beschriebenen Ansatz. Man kann die Winterlücke schliessen, indem man zum Beispiel etwa 60 GW Photovoltaik in den Alpen installiert. Das entspricht etwa 3300 Anlagen von der Grösse von Gondosolar. Zusätzlich müssten dann Netze und Speicheranlagen aufgebaut werden. Um die Grössenordnung zu illustrieren: Zur Mittagszeit würden für ein paar Stunden 60 GW Strom erzeugt, aber nur etwa 15 GW verbraucht werden. Der Rest müsste gespeichert werden, damit auch nachts die Stromversorgung sichergestellt ist. Am besten liesse sich das durch Pumpspeicherkraftwerke wie Linth-Limmern und Nant de Drance realisieren. Die heute in der Schweiz gebauten Pumpspeicherkraftwerke verfügen aber bloss über etwa 13 Prozent der dann zu speichernden Photovoltaik-Leistung.
Laut einer Studie des Verbands der Stromwirtschaft kann die Versorgung im Winter am günstigsten mit der Windkraft gesichert werden. Sollte die Schweiz also in grossem Stile Windräder im Mittelland und im Jura installieren?
Technisch machbar wäre es. Aber ob es ökonomisch und ökologisch sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Im Vergleich zu den Küstengebieten der Nordsee und den Offshore-Anlagen sind die Windpotenziale in der Schweiz geringer. Um das zu kompensieren, muss man dann mehr Anlagen und entsprechende Speicher bauen.
Sie haben es vorhin angesprochen: Die Schweiz wird künftig im Sommer riesige Stromüberschüsse produzieren. Wird es möglich sein, damit Wasserstoff zu produzieren, ihn dann zu speichern und im Winter zur Stromproduktion zu nutzen?
Auch das wäre technisch möglich. Allerdings müsste man dazu etwa die doppelte Kapazität an Photovoltaik im Mittelland installieren, um die Winterlücke schliessen zu können. Und es müssten zusätzlich 23 TWh Wasserstoffspeicher aufgebaut werden. Einfach zur Illustration: Um diese Menge Wasserstoff zu speichern, braucht es etwa 750 Millionen 50-Liter-Gasflaschen bei 250 bar.
Landschaftsschützer und Grüne sagen: Wir müssen beim Solarstrom nur das Potenzial auf Dächern und Infrastrukturen nutzen, dann haben wir genug Strom.
Wenn der Stromverbrauch so zunimmt, wie ich oben angetönt habe, die Kernkraftwerke abgestellt sind und die 2 TWh zusätzliche Wasserkraft realisiert werden, die im Stromgesetz letztes Jahr angenommen wurden, dann wird es nicht reichen. Wir könnten 2050 mit den anvisierten 36 GW PV auf den Dächern im Winter nur etwa die Hälfte des benötigten Stroms produzieren.
Besitzt die Schweiz mit der Wasserkraft genügend grosse Speicher, um Dunkelflauten zu überstehen, also längere Phasen ohne Sonne und Wind?
Aktuell nicht. Zu Beginn des Winters stehen Wasserspeicher zur Verfügung, mit denen etwa 8 TWh produziert werden können. Die Stromlücke mit den oben beschriebenen Plänen schätze ich wie gesagt im Winter auf etwa 20 TWh. Man müsste also die Speicherkapazität auf das Zweieinhalbfache steigern. Das ist aber nicht möglich, weil es dafür nicht genug geeignete Standorte für Wasserkraftwerke gibt.
Wie stark trägt es zur Entschärfung der Energiesituation bei, wenn die Laufzeit der bestehenden Kernkraftwerke in Leibstadt und Gösgen auf 80 Jahre verlängert wird?
Die Kernkraftwerke liefern heute besonders im Winter einen grossen Beitrag zur Stromversorgung. Es wird interessant sein zu sehen, wie sich die Situation entwickelt, wenn dann in den Jahren 2032 und 2033 die beiden Reaktoren in Beznau vom Netz gehen. Bis dann wird in diversen Gemeinden die Gasversorgung für Haushalte abgestellt, zudem wird das Verbot von Verbrennungsmotoren in der EU ab 2035 zu einem spürbaren Anstieg des Stromkonsums führen.
Sie gehen davon aus, dass bereits die Abschaltung von Beznau zu Versorgungsproblemen führen wird?
Das wird davon abhängen, ob Importe aus dem Ausland zur Verfügung stehen werden. Einfach zur Einordnung: In den vier Wintermonaten November bis Februar erzeugen die beiden Reaktoren Beznau I und II etwa 2 TWh Strom. Die heute in der Schweiz installierten PV-Anlagen erzeugen in der gleichen Periode etwa 1 TWh.
Kann es sich die Schweiz denn längerfristig überhaupt leisten, auf die Kernkraft zu verzichten?
Natürlich, die Schweiz hat vor 1969 ja auch keine Kernkraftwerke gehabt. Die Bevölkerung muss sich einfach entscheiden, ob sie den Stromverbrauch entsprechend reduzieren will oder ob sie die obengenannten Investitionen in Photovoltaik- und Windanlagen, Speicher- und Reservekraftwerke machen will. Was nicht geht, ist der schmerzlose Weg, also der berühmte Fünfer-und-Weggli-Ansatz.
Einen solchen Ansatz verfolgt die Schweiz auch in der Klimapolitik. Sie realisiert im Ausland Klimaschutzprojekte, die sie sich in der Klimabilanz anrechnen lässt. Ist das – trotz aller Kritik an den Projekten – zielführend?
Ja, wenn man das Klimaproblem wirklich angehen will, gibt es keinen anderen Weg, als die beschränkten Finanzmittel ökonomisch optimal einzusetzen. Ich bin überzeugt, dass ein effektiver und effizienter Ansatz in der Klimapolitik so gestaltet werden muss, dass die Extraktion aus dem Untergrund oder der Ausstoss in die Atmosphäre von fossilem Kohlenstoff einen Preis bekommen. Würde man zum Beispiel in Südostasien ineffiziente Kohlekraftwerke durch moderne Erdgas-Kombikraftwerke ersetzen, könnte man die Klimaerwärmung zu vergleichsweise tiefen Kosten spürbar reduzieren. Natürlich muss man dabei korrekt vorgehen. Unseriöse Anbieter haben in der Vergangenheit solche Mechanismen in Verruf gebracht. Es gibt keinen einfachen Königsweg, aber das ist keine Begründung, nichts zu tun.
Die Schweiz liegt bei der Reduktion der Treibhausgasemissionen hinter ihren Zielen zurück. Mit welchem Ansatz liesse sich der Ausstoss von Treibhausgasen am effizientesten vermindern?
Man müsste sich eher fragen, ob es relevant ist, dass die Schweiz ihre Ziele erreicht. Die Klimaerwärmung lässt sich nur durch Massnahmen beeinflussen, die den Ausstoss von Klimagasen in der Grössenordnung von einigen Milliarden Tonnen pro Jahr reduzieren. Alles andere ist für die Galerie.
Die Schweiz hat das Pariser Klimaabkommen ratifiziert. Auch sie muss doch ihren Beitrag zur Bewältigung der Klimakrise leisten.
Das tut sie bereits. Beim CO2-Ausstoss steht die Schweiz vergleichsweise gut da. In der EU beträgt dieser 11 Tonnen pro Kopf und Jahr, in Deutschland 7, in der Schweiz bloss 3,5. Zudem sind diverse Projekte geplant, die den Ausstoss weiter reduzieren, wenn sie realisiert werden. Zentral ist aber, was ich bereits gesagt habe: Die Klimaveränderung ist ein globales Problem, und wir müssen die beschränkten Finanzmittel dort einsetzen, wo sie am meisten Wirkung im Ziel erreichen.
Und welchen Beitrag kann die Forschung beim Ausstieg aus den fossilen Energien leisten?
Die Forschung in den Mint-Disziplinen (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) ist zentral für eine sichere, saubere und klimaschonende Versorgung der Menschheit mit Energieträgern. Ein Beispiel: Eine Verbesserung des Wirkungsgrads von Strahlturbinen für Flugzeuge um ein Prozent reduziert den globalen Ausstoss von CO2 des Luftverkehrs um etwa zehn Millionen Tonnen und spart den Fluggesellschaften über zwei Milliarden US-Dollar an Treibstoffkosten pro Jahr. Damit kann man einige Doktoranden bezahlen.
Grundlagen
Leistung wird in Watt (W) gemessen. Ein kW sind 1000 W, dies entspricht etwa der Leistung eines Haarföhns. Ein MW sind 1000 kW, und dies entspricht etwa der Leistung eines Formel-1-Autos. Ein GW sind 1000 MW, und dies entspricht etwa der Leistung des AKW Gösgen. Wenn 1 W Leistung über 1 Stunde (h) aktiv ist, dann wurde eine Energie von 1 Wh eingesetzt. Eine kWh ist also die Energie, welche ein Haarföhn braucht, um eine Stunde lang betrieben zu werden. Eine TWh sind 1000 GWh, und dies entspricht der Energie, welche das AKW Gösgen in 1000 Stunden produziert.