Die extreme Zunahme der Staustunden sei wohl übertrieben, schreibt die Denkfabrik. Die Schweiz sei im Blindflug.
«Neuer Stau-Rekord!» – Das berichteten letztes Jahr diverse Medien. Sie beriefen sich auf das Bundesamt für Strassen (Astra), das 2023 auf dem Schweizer Nationalstrassennetz so viele Staustunden wie noch nie (48 807) gezählt hatte. Das waren 22 Prozent mehr als im Vorjahr und 50 Prozent mehr als 2021. Die Zahl war im Abstimmungskampf zum Autobahnausbau vom vergangenen November prominent ein Thema.
Nun hinterfragt die Denkfabrik Avenir Suisse die extreme Zunahme. Diese Darstellung sei wohl übertrieben, wie eine Untersuchung der Quellenlage zeige, schreibt der Autor Lukas Rühli in einem Beitrag auf der Website. Je genauer man hinschaue, desto mehr Fragen tauchten auf. Das Astra legt in einer Fussnote zur Statistik selber offen, dass ein Teil des Anstiegs der Staustunden auf eine verbesserte Erfassung zurückzuführen ist, dank zusätzlichen Kameras und Sensoren. Wie gross dieser Einfluss ist, kann das Bundesamt nicht sagen.
Keine massive Zunahme von Staus
Das Astra ermittelt die Staustunden nicht automatisiert, sondern über die Verkehrsmeldungen von Viasuisse. Die Erfassung erfolge nach wie vor weitgehend manuell, schreibt Rühli. Flächendeckende Echtzeitdaten existierten nicht.
Doch es gibt modernere Methoden, um Staus zu erfassen, darunter die automatischen Zählstellen, die den Fluss und die Dichte des Verkehrs messen. Zudem könnten an einigen dieser Zählstellen und mit GPS-Daten aus den Fahrzeugen die Geschwindigkeiten erfasst werden, schreibt Rühli. Die zwei Kriterien stützten die These einer massiven Zunahme von Staus in den letzten Jahren erstaunlicherweise nicht. Das dränge den Schluss auf, dass ein grosser Teil der Zunahme auf die verbesserte Erfassung zurückzuführen sei.
Avenir Suisse hinterfragt auch die kumulierten Zeitverluste von rund 73 Millionen Stunden, die durch Staus auf Schweizer Strassen im Jahr 2019 entstanden sein sollen. Auf diese Zahl kommt ebenfalls der Bund. Bezogen auf die Einwohnerzahl von 2019 entsprächen die Zeitverluste lediglich 1,4 Minuten pro Person und Tag, schreibt Rühli. Angesichts der 31 Minuten, während deren die Schweizer 2019 pro Tag durchschnittlich im Auto sassen, sei der Zeitverlust von 1,4 Minuten nicht nennenswert. Die Zahlen erweckten den Eindruck, dass Stau und stockender Verkehr in der Schweiz höchstens ein punktuelles Phänomen seien – auch wenn Pendler überproportional betroffen seien.
Diese Schlussfolgerung steht jedoch offensichtlich in Widerspruch zu den Erfahrungen von Autofahrern, die regelmässig unterwegs sind. Das nähre grundsätzliche Zweifel an den Zeitverlusten von 73 Millionen Stunden, schreibt Avenir Suisse. Die Datenlage sei widersprüchlich und teilweise unplausibel. Die Denkfabrik kritisiert, in der Schweiz herrsche bei der Stausituation Blindflug. Präzisere, zuverlässigere und glaubwürdigere Messwerte könnten helfen, den Ausbau der Autobahnen optimal zu planen.
Bund will automatisierte Erhebungen
Der Bund räumt ein, dass Aussagen zu den Zeitverlusten nur mit grossem Aufwand aus den Staustunden ableitbar seien. Die Ermittlung solcher Angaben könne gegenwärtig bloss modelliert, aber nicht gemessen werden, sagt der Astra-Sprecher Jérôme Jacky. Dennoch stellten die Staustunden eine gute Annäherung dar, um die Verkehrssituation zu beschreiben. Das Astra ermittle die Staustunden seit Jahren, was ein Bild über die Entwicklung ermögliche. Es nutze die vorhandenen Möglichkeiten, um die Staustunden möglichst gut zu erfassen.
Diese seien nur eine Grösse von vielen, um den Autobahnausbau zu planen. Eine wesentliche Rolle spielten die übergeordneten Strategien und Ziele des Bundesrats, darunter der Sachplan Verkehr oder die Klimastrategie.
Gleichzeitig arbeitet das Astra daran, die heutigen Staumessungen weiterzuentwickeln, mit möglichst automatisierten Erhebungen. Dies könnte künftig über Daten aus fahrenden Fahrzeugen oder über Modellierungen des Verkehrs erfolgen, sagt Jacky. Die Voraussetzung sei, dass die Erhebung und die Methodik über einen sehr langen Zeitraum stabil blieben. Denn andernfalls sind keine Vergleiche mit der Vergangenheit möglich – und damit auch keine neuen Rekordmeldungen.